April 2003 - Ausgabe 46
Die Geschichte
Jüdisches Leben in Kreuzberg von Erwin Tichatzek |
Es waren nicht viele von ihnen in Kreuzberg. Knapp 6000 Menschen bekannten sich bei einer Volkszählung im Jahr 1933 zum jüdischen Glauben. Doch scheuten sich auch 1933 schon viele, ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft zu offenbaren. Es könnten einige mehr gewesen sein. Doch das Zentrum jüdischer Kultur in Berlin war Kreuzberg nicht. Seit 1671 fünfzig jüdische Familien aus Wien in Berlin angesiedelt wurden, hatten sich die Bezirke Mitte, Charlottenburg und Wilmersdorf zu den bevorzugten Wohngebieten der Einwanderer entwickelt. Erst während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und des wirtschaftlichen Aufschwungs, zu dem die jüdischen Unternehmer nicht wenig beigetragen hatten, waren der Bedarf und der Zustrom ausländischer Arbeiter so stark angewachsen, daß die Einwanderer damit begannen, sich auch in Berliner Randbezirken umzusehen. Im Süden Berlins waren es vor allem die Oranienstraße und ihre Seitenstraßen, in denen sich die jüdischen Familien einzurichten begannen. Sie entwickelten schon bald eine rege Betriebsamkeit in der ehemaligen Luisenstadt, und es dauerte nicht lange, da hatte sich die Strecke zwischen Moritzplatz und Heinrichplatz zum »Kudamm des Ostens« entwickelt. Jüdische Unternehmer gründeten große Konfektionshäuser, das Schuhhaus Leiser eröffnete in der Oranienstraße 34, am Moritzplatz entstand das Kaufhaus Wertheim, und etwas weiter entfernt siedelte sich das Verlagshaus Ullstein an. Doch anders als in Wilmersdorf und Charlottenburg ließen sich in der Oranienstraße nicht nur Unternehmer und Händler, sondern auch viele Handwerker, Arbeiter und Angestellte nieder. Die Mehrheit von ihnen lebte in ebenso bescheidenen Verhältnissen wie ihre nichtjüdischen Mitbewohner, und es entstand schon am Anfang des 20. Jahrhunderts so etwas wie die inzwischen sprichwörtlich gewordene »Kreuzberger Mischung«. Ein Hauch aus dem Orient wehte durch die Kreuzberger Straßen. Zwei große Synagogen wurden gebaut in der Lindenstraße, am Kottbusser Ufer und in der Yorckstraße 88 befanden sich die Büros der freien jüdischen Volkshochschule, und in der Lindenstraße die »Hochschule der Wissenschaft des Judentums«. Es gab jüdische Suppenküchen, Kindergärten und Sozialeinrichtungen. Kinos und Theater. Jüdische Restaurants und Feinkostgeschäfte. Fünfzig Jahre später aber beendete der deutsche Faschismus die Entfaltung der jüdischen Kultur, die Spuren des jüdischen Lebens im Vorkriegs-Kreuzberg sind heute weitgehend vernichtet. Das Kaufhaus Wertheim am Moritzplatz. Foto: Postkarte
Der Tod hielt Einzug in der Stadt. Zwar lagen die bürokratischen Schaltzentralen der Diktatur am nördlichen Ende Kreuzbergs, zwischen Anhalter Bahnhof und Wilhelmstraße. Doch auch in der Fontanepromenade befand sich eines jener Gebäude, in denen nicht selten über Leben und Tod entschieden wurde: Das Berliner Arbeitsamt für Juden. »Zwei Beamte kommen herein. Der eine, ein kleiner, elegant aussehender Mensch, ist derselbe, der vorhin mit der Gestapo drohte. Er läßt unsere Gruppe in eine Ecke der Halle treten. Es soll Herr Eschhaus sein, der gefürchtete oberste Leiter des Berliner Arbeitsamtes für Juden«, schrieb Elizabeht Freund in ihr Tagebuch. Auch die kleine Begrüßungsrede des Mannes hat die Frau aufgeschrieben: » Meine Damen, Sie kommen jetzt in eine Fabrik und haben dort zu arbeiten. Sie können froh sein, daß Sie endlich mal in ihrem Leben eine vernünftige Arbeit kennenlernen werden. Sie wissen ja wohl, wieviel Sie damit jenen voraus haben, die sich unterdessen in Polen das Arbeiten angewöhnen … Das wichtigste, was Sie sich zu merken haben, ist das Wort »Arbeits-Sabotage«. Wann macht man Arbeits-Sabotage? Wenn man sich vor der Arbeit drückt, wenn man schlecht und ungenügend arbeitet, usw. … (…) Ich habe angeordnet, daß mir jeder Fall solcher Sabotage persönlich gemeldet wird, und Sie sollen mal sehen, wie ich mich dafür interessieren werde! Ich werde höchstpersönlich kommen, um mich mit Ihnen darüber zu unterhalten, aber ich werde auch gleich zwei Leute von der Gestapo mitbringen, die mit den Betreffenden in ein KZ weiterfahren werden …« Elizabeht Freund hat genau Buch geführt. Sie konnte später nach Amerika ausreisen. Auch andere Männer und Frauen schrieben Tagebücher, doch viele dieser Aufzeichnungen sind verlorengegangen. Oft blieben nur Postkarten, letzte Grüße. So wie von Käthe Schoeps, die am 4. Juni 1942 das Haus in der Hasenheide 54 verließ, um ins Konzentrationslager nach Theresienstadt zu fahren. Am 10. März 1944 schrieb sie ihre letzten Worte: »Ich habe mich sehr über das Päckchen gefreut, insbesondere über das Obst und die Süßigkeiten«. Dann verliert sich ihre Spur. Nicht einmal einer jener kleinen, goldglänzenden Gedenksteine, die sich so nahtlos ins Berliner Pflaster fügen, und von denen bereits über 300 in das Kreuzberger Straßenpflaster versenkt wurden, um an das plötzliche Verschwinden von Menschen aus den Häusern erinnern, läßt den Spaziergänger vor der Hasenheide Nr. 54 einen Moment lang nachdenken. 1300 solcher »Stolpersteine« (Vgl. Kreuzberger Chronik Nr. 22) sollen es einmal werden im Bezirk. Für 1300 Menschen, die, wie Käthe Schoeps, eines Tages ihre Häuser verlassen mußten und nie mehr zurückkamen. Für 1300 jüdische Lebensgeschichten, die abrupt an einer dieser Türen endeten. Und von denen oft nicht mehr als einige Tagebücher, Fotografien, manchmal nur noch eine Postkarte blieb. Manchmal auch nicht mehr als eine Aktennotiz: »Gertrud Eisenstädt, *10. 2. 1901, Skalitzer Str. 20, Dep.: 29. Osttransport, 19. 2. 1943 – Berta David, *31. 3. 1921, Kommandantenstraße 58, Dep.: 31. Osttransport, 1. 3. 1943«, oder Manfred Cohn, gerade elf Jahre alt, der mit dem 31. Osttransport Berlin verließ. Die Liste der Deportierten führt noch weitere 21 Cohns auf – doch keiner von ihnen verließ die Stadt mit dem 31. Osttransport. Der Junge mußte allein reisen. Mehr geht aus den Akten nicht hervor. Der Rest ist traurige Phantasie. Literaturnachweis: »Juden in Kreuzberg – Fundstücke, Fragmente, Erinnerungen«, Berliner Geschichtswerkstatt e. V.; »Kreuzberg – Geschichtslandschaft Berlin«, Historische Kommission zu Berlin, Nikolai Verlag <br> |