September 2002 - Ausgabe 40
Kreuzberger
Raksan, orientalische Tänzerin
von Hans W. Korfmann
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Sie ist eine Künstlerin, und sie hat einen Koffer voller Fotografien. Einige davon liegen über den gesamten Tisch verstreut, zu Türmen aufgestapelt, Bilder von Reisen und Freunden. Vor allem aber Fotografien ihrer selbst, von Raksan, der orientalischen Tänzerin, gekleidet in geschmeidige Gewänder, behängt mit Ketten und Armreifen, eine Gestalt aus 1001 Nacht und den über 2000 Nächten, in denen sie auf der Bühne stand, mit ihrem pechschwarzen, echt schwarzen Haar, die Orientalin, die eigentlich eine Friesin ist, und eigentlich nicht Raksan, sondern Anja Maria Smid heißt. »Ich müßte die alle einmal ordnen!«, sagt sie, und meint damit mehr als nur die Bilder ihres Lebens. Denn ein Leben wie in einem Roman von Hermann Hesse, in dem sich sinnvoll Kapitel an Kapitel reiht, ist ihres nicht. Die gerade Linie, die sie von der Nordseeküste nach Berlin brachte und zur Künstlerin machte, fehlt. Sie durchsucht die Bilder nach Spuren, aber nirgendwo ist ein Hinweis darauf versteckt, daß sie einmal mit entblößtem Nabel und kreisenden Hüften eine Karriere als Bauchtänzerin machen würde. Keine Ballettschule, kein Klavierunterricht. Auch Vater Smid, der jahrelang zur See gefahren war, hielt nichts von Kunst oder Orient. Vater Smid war sehr deutsch, und während Anjas Schulfreunde nach Italien oder Griechenland fuhren und Eindrücke mediterranen Lebens in die tristen Schulsäle importierten, machte die Familie Smid Urlaub an der Ostsee, im Harz oder in Oberbayern. Anja sollte eine ordentliche Deutsche werden. »Wenn Du Künstlerin wirst, enterbe ich Dich!«, sagte der Vater, für den der sozialdemokratische Bundeskanzler Brandt »der Anfang vom Ende« war und das Fernsehen ein unmoralisches Geschäft. Obwohl er selbst eine Art Künstler war, Smid, der Geräuschemeister, der im Tonstudio mit seinen Kokosnüssen Hoss oder Ben Cartwrights Pferde über die Pondarosa galoppieren und Skippy, das Buschkänguruh, durch die Prärie hopsen ließ. Anja hat ihn oft im Studio dabei beobachtet, wie er seine »Instrumente« aus den meterhohen Regalen hervorholte. Mitkommen konnte sie, mitmachen durfte sie nie. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen. Anja sollte ein braves Mädchen bleiben, und deshalb wuchs sie »nicht mit dem Kabrio, sondern mit Blumenkohl und Schrankwand auf«. Nach der Schule begann sie gleich mit dem Studium. Alles lief nach Vaters Plan. Bis eines Tages ein Prinz kam und die Tochter entführte. Sie saß in einem Hamburger Club, im Knust, an der Kasse, als plötzlich zwei Rollschuhe die Treppe hinabstiegen, dann tauchte der Saum eines langen Samtmantels auf, und zuletzt dieses bärtige Gesicht von Stevie. Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, daß der erste Traummann ihres Lebens gerade für immer im Saal zu verschwinden drohte, da rief sie ihm hinterher: »Gib die Karte zurück, du kommst umsonst rein!« Der rollende Prinz entführte sie aus der Provinz. Sein Reich bestand aus einem acht Meter langen Lkw, einem Mercedes, Baujahr 1961, und war damit grenzenlos. Sie fuhren in den Süden, Griechenland, endlich die Welt anstelle der bayrischen Berge oder des Harz, endlich der Olymp anstelle des nebligen Brocken. Das Leben war plötzlich ein unaufhaltsamer Aufstieg, mühelos bezwangen sie den Sitz der griechischen Götter, und als sie doch einmal in der steilen Wand der Meteoraklöster hängenblieben, befreiten Hirten sie aus der aussichtslosen Lage. Sie schienen das Glück auf ihrer Seite zu haben. Und da es die Jahre der buntbemalten Autos waren, verzierte Anja ihren Mercedes im Stil des ausklingenden Hippiezeitalters mit feuerspeienden Drachen und gab dem fahrenden Eigenheim den Namen Villa Pusteblume. Mit verschnörkelten Schriftzeichen schrieb sie damals einen Satz aus Hermann Hesses Steppenwolf aufs Wagenblech: »Denn jeder starke Mensch erreicht unfehlbar das, was ein wirklicher Trieb ihn suchen heißt.« Eineinhalb Jahre blieben sie bei der halsbrecherischen Show, manövrierten ihre Fiats auf zwei Rädern über den Parcours, balancierten im Handstand auf den Automobilen, ernteten den tosenden Beifall der Autonarren. Pressefotografen fotografierten die blonde Anja Maria aus Friesland, die sich auf Anordnung des Impresarios die Haare gefärbt hatte, und die griechischen Gazetten berichteten von den »fliegenden Automobilen«. Es ist immer alles gutgegangen, auch, als sie eines Tages im Feuer liegenblieb. Es dauerte nur Sekunden, da hatten sie ihre Artistin den Flammen wieder entrissen. Das Glück blieb ihnen treu. So reisten sie mit Pascals fliegenden Fiats weiter durch ganz Griechenland, setzten zu den Inseln Kreta und Zypern über, schwebten mit ihrer Pusteblume durch die Landschaft, und durch das Radio wehte die Musik eines anderen Kontinents herüber, die Musik des Orients. Und dann, einige Monate später, in irgendeinem schäbigen Nachtclub in Thessaloniki, sah Anja eine Frau zu dieser Musik tanzen, in einem billigen Kostüm und in einer viel zu großen Pluderhose. Sie war die Karikatur einer orientalischen Tänzerin, die in ungeübten, ordinären Bewegungen den Bauch kreisen ließ. »Aber damals ahnte ich, was hinter, oder was in diesem Tanz steckt. Und was ich daraus machen könnte.« Dennoch landeten sie mit ihrem Mercedes nicht im Orient, sondern in der Stadt der Wagenburgen: in Berlin. Ans Tanzen dachte sie nicht mehr, denn nach vier langen Wanderjahren mit Stevie wurde in der Villa Pusteblume ein Kind geboren: der Sohn Linus. Weil die neue Kleinfamilie Platz brauchte, kaufte Anja Maria sich ihren eigenen Mercedes, Baujahr 1961, acht Meter lang. Stevie wurde es trotzdem zu eng. Außerdem fehlte ihm ein Standbein, Stevie hatte Rollen unter den Füßen. Es sah einen Moment aus, als verließe sie das Glück. Aber als der Traumprinz fort war, kam das Traumtheater Salome in die Stadt, und mit ihm die Amerikanerin Feyouz, eine Koryphäe unter den orientalischen Tänzerinnen. Eine ihrer ersten Schülerinnen war Anja Maria Smid, und als Feyouz ein Jahr später ein Angebot von einem Schweizer Zirkus erhielt, reichte sie es an ihre Schülerin weiter. »Du kannst das schon!« Foto: Michael Hughes
Sie ließ sich nicht mehr aufhalten, auch wenn dieses Kamel, vor dem sie in die Manege tänzeln sollte, bei jedem Auftritt versuchte, die falsche Orientale zu beißen. Obwohl es selbst auch kein echtes Kamel, sondern ein sibirisches Trampeltier war. Die Übung war schwierig, denn sie mußte die nötige Distanz zu ihrem Verfolger bewahren, »ohne daß es gleich aussah, als liefe man vor dem Vieh davon«. Raksan hat sich nie mit dem Tier angefreundet. Dem Trampeltier fehlte der Sinn für Kunst. Und Raksan meinte es ernst mit der Kunst. Raksan hatte gefunden, was sie suchte. Sie tanzte immer weiter, vom Schweizer Zirkus zu den Berliner Kleinkunstbühnen, in die Scheinbar, ins Chamäleon, auf den Mehringdamm zum Karneval der Kulturen und mit dem Oasis Tanz Ensemble auf die Museumsinsel zur Musik von Tangerine Dream. Immer wieder Berlin. Die Berliner sind ihr Publikum geworden. Sogar in dem türkischen Lokal, in dem sie auftrat, jeden Abend zwischen acht und zehn, tanzte sie nicht für die Orientalen, sondern für die Berliner. Danach kam eine andere, eine liebliche und blonde Tänzerin. Für die späten, die türkischen Gäste. Zwar hat auch Raksan schon auf ihren prunkvollen Hochzeiten getanzt, man hat ihr respektvoll den zusammengerollten Geldschein zwischen die dünnen Träger des orientalischen Brustkleides geschoben. Man hat sie manchmal behandelt, als sei sie eine von ihnen. Aber man hat ihr auch mit lüsternen Blicken den Zehner in den Hüftgürtel gesteckt, und das hätten sie bei einer türkischen Bauchtänzerin nicht getan. Anja Maria Smid hat sich einen orientalischen Künstlernamen zugelegt, aber eine Orientalin ist sie nicht geworden. Sie ist dem Orient nähergekommen, mit dem Wohnmobil, in den Lokalen, mit dem Tanz. Aber die Orientalen sind ihr fern geblieben. Vielleicht, weil Raksans Tanz mehr ist als ein klassischer Bauchtanz. Weil er sich entfernt hat von der Tradition und längst eine kunstvolle Synthese verschiedener Formen darstellt, die sich im Berliner Schmelztiegel der Kulturen hat entwickeln können. Der Bauchtanz aber ist für jene, die aus der Fremde kommen und hier leben, ein Stück Heimat. Und das soll bleiben, wie es immer war. Anja Maria Smid betrachtet die Fotografien, blättert 42 Jahre durch. Fünfzehn davon hat sie in einem alten Mercedes verbracht, jetzt wohnt sie in der Bergmannstraße, einer der schönsten Berlins. Ein bißchen sieht es aus, als wäre sie am Ziel angekommen. Als hätte sie unfehlbar das erreicht, was ein wirklicher Trieb sie suchen ließ. Auch, wenn eigentlich vieles Zufall war. Wie im wirklichen Leben eben, und nicht wie im Roman. Jeden Abend steht sie jetzt im Rampenlicht des Chamäleon Varietés, »In der Hitze der Nacht«. Raksan, die Tänzerin aus 2500 Nächten. <br> |