September 2002 - Ausgabe 40
Die Literatur
Bruno Richard: Desaster von Bruno Richard |
Manchmal dauert der Weg von einer Straßenseite auf die andere zwanzig Jahre: Hinterhof, Seitenflügel, herabgefallener Putz im Hausflur, erster Stock, Zimmer, Küche, Klo eine halbe Treppe tiefer, Kachelofen, gestrichene Holzdielen, 35 Quadratmeter, 250 Mark – Vorderhaus, in den Treppenaufgang gemalte Medaillons, vierter Stock, zwei Balkone, sechs Zimmer, Edelstahlküche, zwei Bäder, Etagenheizung, Parkettböden, 190 Quadratmeter, 2500 Mark. Laimer hat den Schreibtisch ans Fenster gerollt. Die Füße gegen das Fensterbrett gestemmt, die Hände um die Unterschenkel geschlungen und das Kinn in die kleine Rinne zwischen den aneinander gedrückten Knien gedrückt, starrt er reglos zu dem Haus auf der anderen Seite der Straße hinüber. Soll er das Dossier zurückgeben? Er schließt für einen Moment erschöpft die Augen und sieht einen schlaksigen Jungen die schwere Holztür aufdrücken und im Dunkel des Toreingangs verschwinden. Er spürt wieder die modrige Kühle auf der Haut und den alten Kohlenkellergeruch in der Nase, obwohl der Junge, den er für einen kurzen Moment wirklich dort drüben zu sehen scheint, inzwischen zum Vierziger gealtert ist, und obwohl das Haus, in dem er gerade eben vor zwanzig Jahren verschwand, mit seiner ockergelben Fassade und den Stahl- und Glasbalustraden anstelle rostig vorstehender Eisenträger schon lange nichts mehr von dem Elendscharme ausstrahlt, der Anfang der achtziger Jahre Westberlin verzauberte, in seinen Augen jedenfalls, als er hier nach einer Exklave suchte und noch nicht wusste, dass er sie auch finden würde. Jetzt wünscht er sich die Zeit kontern zu können, wie Eva es manchmal mit ihren Fotos macht, um sie räumlich anders auszurichten. Er stellt sich vor, wie der junge Mann, den er gerade ins Dunkel des Tores hat treten lassen, sich plötzlich umdreht, zu ihm emporblickt – und dann, für einen winzigen Moment, seine Zukunft vor sich sieht, so, wie er gerade seine Vergangenheit hinter sich gesehen hat.Skurril dieser Zufall, der ihn vor ein paar Monaten mit seiner Familie in die Straße zurückführte, in der er vor annähernd zwei Jahrzehnten untergekommen war, jung, niedergeschlagen, aber kräftig genug für die karge Hinterhofutopie, die er damals mit vielen anderen teilte, die sich als Auswanderer fühlten, als Flüchtlinge ins Niemandsland, Exilanten der westdeutschen Provinz, Idylliker der Isolation zwischen den Systemen mit all der eingemauerten Zeit. Der alte Gasometer in der Straße, der während des Krieges zum Bunker umfunktioniert wurde, diente als Lager für Trockenmilch und Dosenfleisch, »Senatsreserven« für den Fall einer neuen Berlinblockade durch die Sowjetunion, die es seit ein paar Jahren nicht mehr gibt. Inzwischen steht der Gasometer leer und wird an Museumstagen geöffnet, wenn Stadthistoriker Besuchergruppen durch seine »wechselvolle Geschichte« führen, wie es auf Handzetteln heißt, die an solchen Tagen vor dem Gebäude verteilt werden. Vielleicht ist es dieser räumliche Zufall, Laimer weiß selbst nicht recht, diese drollige Zeitspiegelung, in die er sich nun hineingestellt sieht, seit er mit Eva, Bennie und Lara in die schöne große Wohnung in dem Haus schräg gegenüber seiner alten Studentenbude gezogen ist, die ihn dazu bringt, über die zwei Jahrzehnte nachzudenken, die zwischen seiner Ankunft in Westberlin und heute liegen, zwei Jahrzehnte, annähernd die Hälfte seines Lebens. Zwei Jahrzehnte, genau das Doppelte der Lebenszeit Bennies. Und komischerweise ziemlich genau die Lebenszeit Laras. Als er hierher kam, lebte seine Frau mit einem Mann namens Paul zusammen und brachte Lara zur Welt. Er ist diesem Mann, der die Stadt Mitte der Achtziger verlassen hatte, nie begegnet. Entnommen aus: Bruno Richard, Desaster, S. Fischer Verlag, 2002, ISBN 3-10-007120-4, 19,90 Euro <br> |