November 2002 - Ausgabe 42
Die Reportage
Die Leute vom Kotti von Erwin Tichatschek |
Noch gibt es keinen Kottbusser Platz auf der Berlin-Karte. Die Fläche um die Station der U1 und das ehemalige Kottbusser Stadttor ist so namenlos wie die Grünflächen inmitten der Autobahnkreuze. Als hätte er keinen Namen verdient, dieser unbegrünte, kreisrunde, vom schmiedeeisernen Gerüst der Hochbahn in zwei Hälften zerteilte Platz. Übersät vom Kot der Tauben, die sich in himmelverfinsternden Scharen auf ihm niederlassen, weil kaum ein Mensch das Eiland betritt und sie aufstört. Abgeriegelt von Tausenden vorübereilender Automobile, die ihn täglich umfahren. Anhalten tun die wenigsten auf dem von Hochhäusern gesäumten Zirkel mit den zehn Bäumen, den drei Obstständen und den zwei Bänken, auf denen Junkies sitzen und Büchsenbiertrinker. Er ist kein richtiger Platz. Trotzdem nennen die jungen Leute aus der Gegend das Kottbusser Tor nicht »das Kotti«, sondern »den Kotti«. Als wäre der Kotti so etwas wie der Potsdamer oder der Breitscheidplatz. Auch die Alten aus dem Seniorenwohnhaus sprechen vom Kotti, und der türkische Obst- und Gemüsehändler, der morgens im Regen Berge von Melonen, Orangen und Tomaten aufeinanderhäuft, damit es wenigstens ein bißchen aussieht wie im heimatlichen Süden, hält seinem Kotti schon seit Jahren die Treue. Schuster Ibrahim erzählt den Kunden in epischer Breite, was »hier auf dem Kotti« alles schon so passiert ist, und sogar die Bankangestellten der beiden Finanzhäuser mit ihrem braven Hochdeutsch gehen morgens nicht in die Bank, sondern zum Kotti. Daß die Herren Strieder, Schulz und Ströbele ihren Lokalpatriotismus gerne dadurch artikulieren, den schmucklosesten aller Berliner Plätze »ihren Kotti« zu nennen, versteht sich von selbst. Foto: Dieter Peters
Bizim EV – »unser Haus« – heißt auch eine der vielen, unter diesem einen Dach beheimateten Anwohnerinitiativen, in der türkische Frauen das Sagen haben. Ein anderer Verein, ein Schulaufgabenzirkel für ausländische Volksschüler, trägt den treffenden Namen SchaTz. Gegründet wurde er von 23 Elternpaaren, finanziert wird er inzwischen mit Geldern des Quartiersfonds. »Allein in diesem Jahr wurden drei neue Vereine gegründet«, berichten die Mitarbeiter vom Quartiersmanagement Kottbusser Tor. »Denn die eingetragenen Vereine haben die Möglichkeit, öffentliche Gelder für ihre Projekte zu beantragen.« Und ohne dieses Geld, die Vereine und ihre Ideen, würde vieles viel trister aussehen am Kottbusser Tor. Doch auch ohne finanzielle Unterstützungen werden die Menschen am Platz aktiv. Sogar jene, die gar nicht hier wohnen, sondern nur am Kotti herumstehen, weil man sie vom Bahnhof Zoo vertrieben hat. Sie leisten eine Art Solidaritätsbeitrag: Einmal in der Woche sammeln sie den Müll auf dem Spielplatz zusammen. In der Hoffnung, geduldet und nicht wieder vertrieben zu werden. Auch für sie ist der Kotti kein richtiger Platz, aber ein wichtiger Ort. Lebenswichtig für manchen. »Ich hab in sechs Wochen 16 Kilo abgenommen! Ich will nicht mehr!« Der Mann, der das sagt, meint es ernst. Er hat bei den Betreuern am Fixpunkt, die zweimal in der Woche zum Kotti kommen und sich um ehemalige Drogenabhängige kümmern, die alten Spritzen gegen neue eingetauscht. Und er hat Methadon bekommen. Das ist das Wichtigste. Er hat 16 Kilo abgenommen. Trotz der Suppenküche der Heilsarmee. So geht es vielen, die am Kotti stehen. Die Bürger vom Zentrum wissen das. Die meisten haben sich mit den Junkies und ihren Hunden und ihrem Gezeter arrangiert. Wer hier einzieht, erwartet ohnehin kein Paradies auf Erden. Nur die Möbeloase mit ihrem »Paradies der kleinen Preise« möchte lieber umziehen, und auch die Sparkasse hat den Anblick der Drogensüchtigen vor ihrer Tür nicht länger ertragen und den Platz geräumt. Jetzt hat sich ein türkischer Supermarkt in den Räumen eingerichtet, multikulturell wehen die Fähnchen der europäischen Mitgliedsstaaten im Neonlicht, die deutsche brüderlich neben der türkischen. Eine fremdsprachige Anwaltskanzlei berät Landsleute, die eckige Moschee mit den bunten Glasfenstern zwischen den Betonquadern kümmert sich um die Seelen der Moslems, und die »im Haus« ansässige Türkische Gemeinde e.V. ist mit 30000 Mitgliedern längst kein kleiner Kegelverein mehr. Die Schriftzüge in den Auslagen der Geschäfte werben zweisprachig, und den Deutschen, die geblieben sind, kommt das Türkische längst nicht mehr Spanisch vor. Man versteht sich etwas besser nach dreißig Jahren des Zusammenlebens in den babylonischen Türmen. Im Imbiß jedenfalls ist man sich einig: »61 ist Scheiße. Da wohnen die Reichen und die Deutschen, und die Türken werden rausgeschmissen.« »Ja«, sagt der Radfahrer mit dem Helm auf dem Kopf und der taz auf dem Tisch: »Dafür ist hier alles in türkischer Hand!« – Der Mann, der dem Radfahrer gerade das Fleisch vom Spieß raspelt, dreht sich um und lacht: »Stimmt genau. Für jeden Deutschen, der hier wegzieht, kommt ein Türke rein!« Auch das stimmt. Vierzig Deutsche sind noch übriggeblieben von jenen, die vor dreißig Jahren ins Zentrum zogen. Und vielleicht ist diese zahlenmäßige Übermacht der ausländischen Einwohner im Zentrum auch der Grund dafür, weshalb das Zusammenleben hier etwas besser funktioniert als andernorts. Denn im Zentrum Kreuzberg haben sich nicht nur die Migranten anpassen müssen: Hier mußten sich auch die Deutschen anpassen. Foto: Michael Hughes
Daß das Zentrum einmal als beispielhafte Entwicklung des modernen urbanen Zusammenlebens prominent werden würde, damit hatte in den Siebzigern, als die Wohntürme am Kotti in den Himmel wuchsen, wohl keiner gerechnet. Sämtliche soziologische Untersuchungen prophezeiten die baldige Verslumung. Und tatsächlich sah es lange danach aus, als würde sich hier vor allem das menschliche Elend versammeln. Bereits wenige Jahre nach dem Einzug der ersten Mieter dachte man daran, das Armutszeugnis städtebaulicher Nachkriegsarchitektur schnellstmöglich wieder aus der Landschaft zu entfernen. Doch dazu fehlt bis heute schlicht das Geld, da der Abriß der monströsen Gebäude ebenso teuer wäre wie ihre Sanierung. So stehen sie noch immer, die allmählich verrottenden Betonwände, auf immer wackeligeren Beinen. Und die Menschen möchten bleiben. Auch Ingo fühlt sich wohl auf seiner Matratze unter der Hochbahn. Sogar im Winter, wenn der Wind Schnee und Regen durch die Straßen treibt. »Daran hab ich mich gewöhnt. Nur die Tauben ärgern mich. Aber die Leute sind in Ordnung. Die lassen mich in Ruhe.« Natürlich belästigte ihn die Polizei, als sich Ingo vor ein paar Jahren entschloß, sich mit seinem Pappkarton, dem Bettgestell und der Decke in der vom Taubenkot überdüngten Mitte des Kreisverkehrs häuslich niederzulassen. Aber als er ihnen von den fünfzehn Jahren erzählte, die er als Konterrevolutionär im Gefängnis der Demokratischen Republik verbracht hatte, bis sie ihn endlich herüberschoben aus dem Osten, und daß er hier im Westen niemanden kannte und auch nicht viel machen konnte mit seinem lahmen Bein und den zwei Krücken, mit denen er sich durchs Leben schlägt, ließen sie ihn in Ruhe. »Ich tu ja auch niemandem was! Ich bin nur da! Eigentlich genau wie die anderen auch!« Inzwischen gehört er zum Platz wie der Obsthändler und die Junkies, einige grüßen ihn morgens, andere geben ihm die paar Cent, die er fürs nächste Bier braucht. Wenn die Obsthändler abends einpacken, bleibt immer etwas übrig für ihn. Und auch die Mülltonnen am Kotti sind noch voller als die in anderen Städten dieser Welt. Wahrscheinlich aber wird Ingo sich bald ein neues Zuhause suchen müssen. Denn jetzt soll der Platz am Kottbusser Tor schöner werden. Im Frühjahr hat man damit begonnen, die alten Platten vom Gehweg aufzuheben, um 40 Kirschbäume zu pflanzen, neue Beete anzulegen und akkurat gepflasterte Wege, die rund um den Kotti führen und ihm endlich die einheitliche Gestalt verleihen sollen, die aus ihm einen wirklichen Platz macht. Auch diese Idee stammt ursprünglich von den Bürgern des Zentrums. Vom Quartiersmanagement wurde sie ausgearbeitet und mit 350000 Euro aus Mitteln des Senats für Stadtentwicklung und des Bezirkes Friedrichshain-Kreuzberg finanziert. Doch nicht nur an den belebten Rändern des Kotti, auch auf Ingos stiller Insel der Glückseligkeit wird es lebendiger werden. Zwei Zebrastreifen sollen Brücken auf die verödete Verkehrsinsel schlagen, und dort, wo heute Ingos Bett steht, wird vielleicht eines Tages ein Fahrstuhl die Fahrgäste der BVG zur Hochbahn transportieren. »Ach«, sagt und nimmt einen Schluck aus der Büchse, »dann muß ich mir eben was anderes suchen«. Und fügt etwas nachdenklich hinzu: »Aber nett war es hier schon!« Lesen Sie dazu auch: <br> |