November 2002 - Ausgabe 42
Herr D.
Herr D. im Atlantic von Hans W. Korfmann |
Eigentlich war Herr D. zu alt für solche Lokale. Wenn er unter all den halbnackten, gut gebräunten Mädchen mit den kleinen Ringen im Bauchnabel saß, dann fühlte er sich ein wenig unwohl. Nicht, daß Herr D. etwas gegen halbnackte Mädchen hätte, neinein, überhaupt nicht. Aber er kam sich in seinem Jackett und mit dem Hemd in der zugeknöpften Hose immer wie ein Fremdling, wie ein neugieriger Tourist vor, der auf der Suche nach Berliner Exotik alles gierig in sich einsog. Dabei wohnte er nun schon über ein Jahr in diesem Stadtteil, eigentlich hätte er längst dazugehören müssen. Schon, wenn sie an seinen Tisch kamen, das Tablett auf dem Handteller balancierend den Blick gleich wieder von ihm abwandten und auf die Straße schauten, als führe dort soeben der amerikanische Präsident vorüber, ärgerte sich D. furchtbar. Und wenn er sein Bier bestellte und die Mädchen in gleichgültigem Ton fragten: »Becks oder Jever?« – als ob das keinen Unterschied machte! –, dann bereute er es eigentlich jedes Mal aufs neue, sich ausgerechnet hier, inmitten dieses jungen Trubels, niedergelassen zu haben. Er fragte sich, was es eigentlich war, weshalb dieses Lokal eine so magnetische Anziehung hatte, daß nicht einmal er widerstehen konnte. Aber er fand keine Antwort. Doch dann, an einem der letzten, lauen Spätsommerabende, änderte sich sein Verhältnis zum Atlantic schlagartig. »Herr D.!«, rief eine freudige Stimme, »was suchen Sie denn hier?« Es war die Tochter eines ehemaligen Arbeitskollegen aus Bonn, sie trug einen kleinen Ring im Bauchnabel und ein Tablett auf dem Handteller. »Das hätte ich ja nie von Ihnen gedacht, daß ausgerechnet Sie … – also, mein Vater, der würde …!« D. lächelte. Er hatte die Tochter seines Arbeitskollegen vor etwa fünfzehn Jahren des öfteren auf den Schultern getragen, wenn sie ihrem Vater zu schwer geworden war, und er war mit ihr in die Achterbahn gestiegen, weil der Vater sich nicht mehr traute. Als D. dann nach Berlin zog, hatte der Kollege nur noch den Kopf geschüttelt, ihm »viel Glück in der neuen Hauptstadt« gewünscht und nie wieder von sich hören lassen. Die Bonner Auswanderer waren in den Augen der Zurückgebliebenen so etwas wie Vaterlandsverräter. »Hey, Sabine, bringst Du uns noch zwei Caipis!«, rief ein junger Mann mit Hut, Sonnenbrille und einem Zweitagebart, der wahrscheinlich eine ganze Woche gebraucht hatte, um auf die Länge von 0,5 Zentimetern zu kommen. Aber Sabine antwortete nicht, sie hatte ihr Tablett abgestellt und sich zu dem alten Herrn an den Tisch gesetzt: »Also, daß ich Sie hier wiedertreffe! Ausgerechnet hier! Aber erzählen Sie bloß nichts meinem Vater!« »Ach!«, sagte Herr D., »von dem habe ich lange nichts mehr gehört. Und Du jobbst hier?« Also erzählte Sabine von ihrem Studium, von der Wohnung in Prenzlberg, und vom Kellnern. Zwischendurch sprang sie auf, bediente die anderen Gäste an den anderen Tischen und kam wieder zu ihm zurück. Bald saßen noch andere junge Menschen bei D. am Tisch, und bald lutschte auch D. am ersten Caipi seines Lebens. Irgendwann in der Nacht schloß das Lokal, und er ging in einer leichten Schlangenlinie seines Heimweges. Seit diesem Abend fühlte D. sich nicht mehr als Fremder. Wenn er samstags auf dem Weg zur Markthalle am Atlantic vorbeikam, saß immer jemand da, den er kannte. Sogar die Mädchen mit den Ringen im Bauchnabel grüßten ihn. Und die jungen Frauen mit den Tabletts fragten ihn nicht mehr nach Jever oder Becks. Sobald sie ihn sahen, verschwanden sie hinter der Theke und kamen mit einem Caipi zurück. <br> |