Kreuzberger Chronik
November 2002 - Ausgabe 42

Die Geschichte

Das vergessene Hochhaus


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von Detlef Krenz

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Eine unauffällige Tafel hängt über dem Eingang des Hauses Kottbusser Damm 1. Wer genauer hinschaut, wird das Relief von Heinrich Zille entdecken. Die Tafel soll an ein Denkmal des Künstlers erinnern, das nicht weit von hier im Garten des Hauses Kottbusser Damm 6/7 stand. Ein leichter Regen fiel bei der Einweihung des Denkmals im Jahre 1929. Kurz vorher war Zille gestorben. Claire Waldoff, deren berlinerisch rauhe Stimme er liebte, sang eine Huldigung im Hof der Elitesänger, die in der 6/7 residierten.

18 Jahre später war die Stadt gevierteilt. Das Denkmal wurde in den »Sektor«, den russischen Teil von Berlin transportiert und im Heinrich-Zille-Park wieder aufgestellt.
Zille-Haus
Foto: Detlef Krenz
Daß Kreuzberg an der Grenze zum »Osten« lag, brachte den Händlern am »Kotti« viele Kunden. Etwas Besseres als die wackeligen Marktstände mußte her. Die Händler schlossen sich zusammen und mieteten 1949 das Grundstück Kottbusser Straße 1. Eine gute Lage zu Füßen des U-Bahnhofes und der vielen Straßen, die zum Kottbusser Tor führten. Arkaden schlossen zum Kreisverkehr ab und säumten die Front von der Admiralstraße bis zum Kottbusser Damm.

Verkaufshof am Kottbusser Tor prangte auf der Stirnseite. Die Arkaden bildeten den Rest dieses Hochhauses am Kottbusser Tor. Hinter der Fassade folgte ein Budenstädtchen. Die Architekten Wassili und Hans Luckhard setzten der Entwicklung eins drauf: 1955 wurde alles abgerissen, um Platz für ein neues Hochhaus zu schaffen. Mit 10 Stockwerken unter dem flachen Dach, einem Fahrstuhl, Müllschlucker und molliger Wärme in den 102 Wohnungen. Der Hauswart war Schneefeger, Heizer und »Waschmeister« für den Waschkeller. Im Parterre Möbel Austel neben dem Polizeirevier, dem Kaufmann und vielen anderen Geschäften.

»Nette Leute« wohnten im Haus, so der Telegraf vom 12. Februar 1956, der im Seitenflügel eine Filiale unterhielt. Die Haases aus dem ersten Stock zum Beispiel. Sie grüßten jeden, den sie im Hausflur trafen, denn war das nun ein Nachbar oder war es keiner? Sie benutzten niemals den Fahrstuhl, in den sich die anderen drängten. Deshalb kannten sie kaum jemanden im Haus. Nein, sie waren nicht eingebildet oder menschenscheu, sagten sie dem Reporter, sondern: »Sie wollten sich nicht in das Leben der andern einmischen und vor allem ihres in Ruhe leben.«Haases wohnten schon 1939 an der Kottbusser Straße 1. Im vierten Stock, in der ersten Etage war das Polizeirevier. Daneben die Luftschutzbefehlsstelle und im Keller die Luftschutzräume. Zu ebener Erde unter den Arkaden Läden wie Schuh-Stiller oder das Café Hinz & Küster, und nicht zu vergessen das Berliner Kindl am Kottbusser Tor. Die 55 Wohnungen reichten vom vierten bis in den sechsten Stock. Jede wohlig warm und mit einer Küche in Tortenstückform, eine Besonderheit wegen der Eckbebauung. Der von einem spitzen Dach gekrönte Block erstreckte sich von der Admiralstraße 39 bis zur Kottbusser Straße 3.

Sowohl vor als auch nach dem Krieg war die GSW der Bauherr. In Stilfragen durchaus tolerant – Arkaden gab es bisher nur in der Friedrichstraße! –, doch den Mietern der Admiralstraße gegenüber eher diktatorisch, denn die wurden ab 1937 kurzerhand »entmietet«. Auch die Ansammlung kleiner Holzhütten an der Ecke der Kottbusser Straße mußte nun weichen. Beim Bau der Nord-Süd-U-Bahn von der Leinestraße zum Gesundbrunnen wurden die Nr. 1 und 2 am Kottbusser Tor unterkellert, was Risse in den Mauern verursachte. Nach vergeblichen Abstützungsversuchen folgte der Abbruch. Auf der Baulücke siedelten fortan Kleingewerbler: Zeitungsstände, Blumenhändler, Tabak-Kioske. Der Baubeginn für das erste Hochhaus am Kottbusser Tor, dem viele ähnliche im künftigen »Germania« folgen sollten, war im Jahr 1938. Es überstand die ersten Kriegsjahre fast unbeschadet, aber am 9. Februar 1945 schlugen die Bomben ein.

Sehr viel länger stand der erste Gebäudekomplex an dieser Ecke. Schon 1884 hatten die Grundstücksmakler Haberland einen ersten Bauantrag eingereicht, und nachdem Maurermeister Hölz die Parzelle von ihnen erworben hatte, zeichnete er den Entwurf für einen respektablen Gründerzeitbau. Die Bauspekulanten Haberland ihrerseits kauften das Grundstück vom Cafetier Wollter, dem Wirt der Linde, einem beliebten Ausflugslokal inmitten einer ländlichen Gartensiedlung. Nach der Eröffnung im Jahre 1862 wurde die Linde schnell zum Treffpunkt der Berliner Arbeiterbewegung, und nach 1878 als »Sitz illegaler sozialdemokratischer Zusammenkünfte« in den Akten verzeichnet, was Wollter Jahre später zur Aufgabe zwang.

1955 drückte Bezirksbürgermeister Kressmann einen Knopf und drei neonrote Buchstaben leuchteten über dem Kottbusser Damm. Wo sich einst die Elitesänger trafen, wurde Bendows Bunte Bühne eröffnet. Aus dem einstigen Cabaret war das modernste Filmtheater Berlins geworden. 900 Zuschauer fanden in weinroten Polstersesseln Platz, für Schwerhörige gab es Sessel mit Kopfhörer. Vor der 14 Meter breiten Cinemascope-Leinwand sprühte die größte Wasserorgel der Welt, 120000 Westmark teuer. Auf der 200 Quadratmeter großen Bühne konnten Liveaufführungen stattfinden, für die Fernsehkameras des SFB gab es einen speziellen Umlauf.

Vor dem Eingang sitzen drei Mann und spielen Karten, die Ausleger der Satellitenschüsseln weisen von der reichverzierten Stuckfassade zum Eutelsat, Astra, Türksat. Das Vorderhaus Kottbusser Damm 6/7 hat den Bombenkrieg wie die Kahlschlagsanierung der Siebziger überlebt. Ein hoher, schlanker Tordurchgang führt auf den weiten Hof. Von Bendows Bunter Bühne ist nichts mehr zu sehen, von den drei Linden, unter denen Claire Waldoff dem »Schlorrendorfer« Zille ein Ständchen brachte, auch nicht. Kinder rennen durch die Ladenstraße, die den Kottbusser Damm mit der Admiralstraße verbindet.

Die Coiffeure im türkischen Frisiersalon haben gut zu tun, im Orientmarkt werden die Regale gefüllt. Die kleinen weißen Kacheln an der Außenfront glitzern nach dem Regen. Zierlich nimmt sich das Zille-Haus Kottbusser Damm 1/2 gegenüber dem mächtigen Wohnriegel aus, der sich über die Admiralstraße spannt. Gitter sperren ab, vor dem Eingang wird der Gehweg saniert. Man muß auf die Straße treten, um vorbeizukommen. Keiner hat mehr einen Blick übrig für den einst vielbeachteten Block. <br>

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