Kreuzberger Chronik
Mai 2002 - Ausgabe 37

Herr D.

Herr D. fährt in den Mai


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von Hans W. Korfmann

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D. konnte sich noch genau erinnern. Wie die Zeitungen damals Stimmen zu gewinnen versuchten für Bonn und gegen Berlin. Wie der »Bonner Generalanzeiger« über den 1. Mai berichtet hatte, über dieses wilde Kreuzberg, in dem die Zeit offenbar in den siebziger Jahren stehengeblieben war, und das quasi in unmittelbarer Nachbarschaft des Regierungsviertels lag. Doch D. wußte, daß nicht alles stimmte, was die Zeitungen so schrieben, und deshalb machte er sich am 1. Mai auf den Weg, um durch die Stadt zu radeln.

Doch D. war viel zu früh. Die Kreuzberger standen vor 10 nicht auf.

D. war schon vier, fünf Straßen weit gefahren, ohne irgendeinem Menschen begegnet zu sein, er konnte mit seinem Rad die ganze Straßenbreite nutzen und verspürte eine seltene Freiheit, radelte fröhlich über das frisch polierte Kopfsteinpflaster, die Asphaltspuren lagen glänzend unter der klaren Maisonne, das Grün der Blätter an den Bäumen war so kräftig und appetitlich wie das der Gemüseabteilung von Karstadt.

Es lag eine unwahrscheinliche Stille über dem Viertel, sogar in der Oranienstraße herrschte Frieden. Vor den ersten Polizeiautos, die am Straßenrand geparkt waren, standen Polizisten mit freundlichen Gesichtern und Pappbechern dampfenden Kaffees, blinzelten in die Sonne und versuchten die Buchstaben auf dem Transparent zu lesen, das von Dach zu Dach über die Straße gespannt war. Die ersten roten Fahnen tauchten auf und wehten lustig zwischen dem Grün der Kastanien vom Oranienplatz, zwei Mädchen mit Springerstiefeln scherzten mit den staatlichen Streitkräften, und Anhänger einer kurdischen Demonstrationsfraktion fragten bei den grünbekleideten Beamten um ein Stück Schnur zum Befestigen des Transparentes an. Schon wollte ein friedvoller Polizist im Wagen zu suchen beginnen, als der Kollege lächelnd den Kopf schüttelte. »Wir haben keine Schnur!« D. betrachtete nachdenklich die gewaltigen, astronautentauglichen Helme, die hinter den vergitterten Scheiben des Einsatzfahrzeugs lagen. Aus irgendeinem Fenster erklang ein Lied, das D. schon einmal irgendwo gehört hatte … »Der Mariannenplatz war blau, so viel Bullen waren da …«

Daß der Frieden ein trügerischer war, erfuhr D., als er sich in die Nähe der Bundesdruckerei verirrte. Er sah nicht eben aus wie ein Autonomer, dennoch verlangsamte er angesichts der Polizeistreife das Tempo rapide. Das war die falsche Reaktion, D. mußte anhalten. Die Beamten verlangten die Papiere, dann untersuchten sie wortlos den Inhalt seines Gepäckträgerkörbchens mit der Zeitung und der Wasserflasche, und während die Beamten suchten, sah D., daß es auch im Innenhof der hermetsich abgeriegelten Druckerei grünte: Etwa zwanzig frisch polierte Polizeifahrzeuge waren hier stationiert, durch das vergitterte Tor richteten sich zwei Wasserwerfer auf ihn. D. fuhr weiter Richtung Osten, und da wurde ihm klar, daß sich in allen Seitenstraßen versteckte Polizeistützpunkte befanden. Ganz Kreuzberg war abgeriegelt.

D. wollte raus, er dachte an den nahen Osten. Und tatsächlich, kaum hatte er die Grenze zur ehemaligen DDR überschritten, da änderte sich das Bild, belebten sich die Straßen. Im Osten stand man offenbar früher auf als im Westen. Vor dem Roten Rathaus zogen die vereinzelten Schutzmänner ihre Jacken aus und erklärten Passanten den Weg. Ihr Zelt hatten sie mit zwei lächelnden Polizistinnen und einer Polizeifahne geschmückt, gleich neben dem Bratwurstgrill und dem Bierausschank. Luftballons stiegen in den wolkenlosen Maihimmel, Kinder mit weißen Kniestrümpfen gingen an der Hand ihrer Eltern, Gewerkschaftler verteilten Flugblätter, es wurde ein bißchen diskutiert und Bier getrunken, und zu alledem spielte eine Band »I can get no satisfaction« – Danach blies eine Blaskapelle den Ostberlinern den Marsch.

Komisch, dachte Herr D., daß ausgerechnet im Osten der 1. Mai so friedlich und bedeutungslos war wie ein österreichisches Feuerwehrfest. <br>

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