Kreuzberger Chronik
Mai 2002 - Ausgabe 37

Die Freizeit

Die Kartenspieler


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von Horst Unsold

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Sie sind dem kritischen Kreuzberger noch immer ein Dorn im Auge: Wenn er sie demonstrativ in der Mitte eines großen Saales am Tisch sitzen sieht, zieht er demonstrativ die Stirn in Falten, und wenn sie sich, wohlwissend, daß sie in Kreuzberg und nicht in Freiburg sind, in die hinterste Ecke des Lokals verzogen haben, wirft er ihnen zumindest einen abschätzigen Blick zu. Den Skatbrüdern.

Ihnen ist es, im Gegensatz zu den längst in die große Gemeinde der wahren Kreuzberger aufgenommenen Fußballfans und Formel-Eins-Fanatiker, der weißbesockten Tennisspieler oder der weitverbreiteten Fitnessjogger, bis heute verwehrt geblieben, sich vom Stigma des konservativen Hinterwäldlers zu befreien. Für den kartenspielenden Biertrinker im Wirtshaus gilt noch immer: Diese lautstarken Dreier- oder Vierergrüppchen sind geistlose Grobiane, halten sich in den Wäldern ganz Deutschlands versteckt und huldigen heimlich dem Patriotismus. Denn Skat ist nicht irgendein Spiel. Es ist – anders als Bridge, Poker oder Canasta, die sich einer gewissen Internationalität erfreuen – ein ganz und gar deutsches Spiel. Eine deutsche Erfindung, und es wird auch nirgendwo sonst auf der Welt gespielt als eben in Deutschland. Und in Griechenland, Spanien, Italien oder Thailand – wenn die Deutschen dort gerade Urlaub machen.

Was darüber hinaus den Skatbrüdern das Leben in Kreuzberg schwer macht, ist das relativ hohe Bildungsniveau des Durchschnittskreuzbergers. Auf den Akademiker wirkt es stets befremdlich, wenn vierzigjährige Männer am Tisch versammelt sitzen und lautstark immer die gleiche Zahlenreihe herunterplappern wie ein Kleinkind – nur, daß diese Zahlenreihe ganz offensichtlich falsch ist. Das will und will dem Künstler und dem Literaten nicht in den Sinn. Ganz besonders kritischen Blicken sind die Spielenden ausgesetzt, wenn sie an der Spitze einer solchen Zahlenreihe angelangt eine Ziffer, zum Beispiel die 56 oder sogar 72, nennen und mit der Faust auf den Tisch hauen, und wenn dann ein dicker Bärtiger tief in sein Glas und sein Blatt schaut und angestrengt rechnet, um am Ende noch lauter »Kontra« in den Saal zu rufen. Das ist quasi jener Augenblick, auf den alle bei Matto, im Heidelberger Krug oder im Atlantic gewartet haben. Die beste Wirkung erzielt der berühmte Schlachtruf des Skatbruders am Sonntagnachmittag im Heidelberger Krug, etwa während eines Konzertes oder eines leisen Gedichtvortrags. Da kann es durchaus vorkommen, daß der ansonsten in Toleranz geschulte Kreuzberger sich vom Platz erhebt und beim Wirt vorspricht, damit der für »Ruhe und Ordnung« sorge.

Der Skatbruder also hat es schwer in diesem Viertel. Obwohl die vielen Vorurteile, die auf den übers aufgefächerte Blatt gebeugten Rücken lasten, meist keine Berechtigung haben. Der vielzitierte »Skatbruder« wurde schon früh durch ebenbürtige »Skatschwestern« ergänzt, und die Emanzipation hatte am Skattisch längst stattgefunden, als die »Emma« noch lange nicht geboren war. In den modernen Skatrunden sitzen auch keine lautstarken Bauernlümmel mehr, sondern ruhige und gemütliche Gestalten, die nichts anderes im Sinn haben, als sich einmal in der Woche bei Bier und Zigarette mit Freunden in einer Kneipe zu treffen. Gerade für den arbeitenden Teil der Bevölkerung ist ein solcher fester Freizeittermin von eminenter gesundheitlicher Bedeutung. Und auch der feste Glaube des Kreuzberges, ein simples Kartenspiel erfordere wenig Geschick und noch weniger Intelligenz, ist längst als Irrglaube entlarvt: Treffen sich doch heute in den renovierten Vierzimmerwohnungen im Chamissoviertel viele der ehemaligen Skatgegner zu heimlichen Dreiergruppen. Während das Doppelkopfspiel, die verfeinerte und raffinierte Form des Skats, sich bereits intellektueller Anerkennung erfreut und auch von Akademikern längst in aller Öffentlichkeit gespielt wird. <br>

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