März 2002 - Ausgabe 35
Kreuzberger
Lotte Kirchberger, Rentnerin
von Friederike Gr?ff
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In der alten Wohnung hat Lotte Kirchberger abends immer ihren Mann in der Eßecke sitzen sehen. Obwohl er doch kurz vor Kriegsende gefallen war. Deshalb ist sie 1955 aus der Waldemarstraße umgezogen. »Ich hab mir für meine Sachen einen Mann mit einer Karre genommen und bin in die Oranienstraße gezogen«, sagt Lotte Kirchberger. »Dann hab ich Ruhe gehabt.« Sie lacht, während sie auf die Holzlehne ihres Sessels klopft. Ihr Lachen ist tief, heiser und wiederkehrend. Säße sie nicht weißhaarig, mit blauem Hauskleid und orangefarbener Bluse neben ihrem Handarbeitskorb, würde man es verraucht und möglicherweise theaterträchtig nennen. Beim Umzug hat Lotte Kirchberger von den alten Möbeln nur den schweren dunklen Schrank behalten, alles andere hat sie damals verkauft. Heute stehen vor allem kleine Stilleben in ihrem Wohnzimmer. In einer Efeulaube residiert eine Porzellannymphe, die bei Stromzufuhr Wasser aus ihrem Krug gießt. Ein Strickzwerg schaut in der Laube sitzend zu und neben der Nymphe wohnt ein Pinguin. An den Wänden hängen Berglandschaften, einmal als Herbstbild und zur Sicherheit noch einmal als Foto. Lotte Kirchberger ist in Berlin geboren und hat gut achtzig ihrer hundert Jahre in dieser Stadt verbracht, aber München gefällt ihr besser. Zwanzig Jahre hat sie dort gelebt, nachdem sie 10jährig von der ungeliebten Mutter zum Vater ausgerissen ist. »Da unten ist es schöner«, sagt sie, leicht berlinernd, und daß sie nur deshalb nach Berlin zurückgegangen sei, weil ihr Mann dort Arbeit gefunden hatte. München bedeutete Blick auf die Berge, bedeutete Anstandsschule für höhere Töchter und einen Vater, der als Messerschmied-Hoflieferant Lotte gerne als Gesellschaftsdame im Nymphenburger Schloß gesehen hätte. Stattdessen wurde sie Schneiderin in der Oranienstraße. Seit fünfzig Jahren lebt sie in dieser Straße, die eigentlich aus zwei Straßen besteht. Der »Ku’damm des Ostens« in den dreißiger Jahren, der ihr gefallen hat, und dann in den Siebzigern die Sammelstraße von Künstlern, Aussteigern und türkischen Einwanderern, die ihr fremd war. Aber das Fremde hat sie geprägt in einem Alter, in dem die meisten Menschen abgeschlossen haben mit dem Neuen. Nach dem Krieg hat sich alles geändert. »Damals fing das Durcheinander an«, sagt die alte Dame. »Früher hatten die Bäcker nur Brot verkauft, plötzlich hatten sie belegte Brötchen.« Und im Gardinenladen gab es Stoff zu kaufen. In den 60er Jahren sind die ersten Gastarbeiter in die Oranienstraße gekommen. »Ich habe nichts gegen Ausländer«, das sagt Lotte Kirchberger mehrmals, »aber für meine Begriffe ist es jetzt fremdartig«. Und wiederholt: »Natürlich nur für meine Begriffe. Ich hatte ja eine ganz andere Erziehung als die jungen Leute von heute.« Und dann erzählt sie von der türkischen Frau, die ihr die schwere Tasche abnehmen wollte: »Quälen Sie sich nicht, hat sie gesagt, und ich drehe mich um und sehe, sie hat ein Kopftuch.« Lotte Kirchberger lacht. »Ich habe sie wie einen Geist angeguckt.« – »Ich kenne Sie«, hat dann die türkische Frau gesagt. »Ich Sie aber nicht«, hat die alte Dame geantwortet. »Doch«, hat die junge Frau darauf beharrt. »Wir wohnen bei Ihnen gegenüber, und mein Mann sagt immer, so eine alte Frau kann doch nicht alleine leben.« Es gab eine Zeit, in der das Alleinleben Lotte Kirchberger schwer wurde. So schwer, daß sie »kurz davor war, eine Dummheit zu machen«, wie sie es nennt. Aber in der Welt von Lotte Kirchberger gibt es Dinge, die man tun, und solche, die man nicht tun darf. Heute sei das anders, glaubt sie. Aber sie will und kann damit leben. »Ich hab mich der Jugend angeschlossen – damit ich nicht stehenbleibe.« Also ist Lotte Kirchberger weitergegangen, von der prächtig geordneten in die schmuddelig unübersichtliche Oranienstraße und von einem Leben zu zweit ins Alleinsein. Ihre Tochter ist stehengeblieben. Eine alte Tochter, 73 Jahre alt, die nach 43 Jahren Ehe ihren Mann verloren hat. Jetzt leidet sie an Wahnvorstellungen und lebt in einem Pflegeheim. »So ein trauriges Ende«, sagt ihre Mutter. Dann beginnt sie zu rechnen. Die Ehe ihrer Tochter hat viermal so lange gedauert wie die ihre, deshalb glaubt Lotte Kirchberger, daß sie viermal soviel Zeit brauchen wird, um über den Verlust hinwegzukommen. »Es ist, als sei sie hundert und ich siebzig Jahre alt«, überlegt Lotte Kirchberger im Schein der sich langsam erleuchtenden Fachwerkburg auf der Anrichte, umgeben von den Fotos der lächelnden Enkel und Urenkel. Das ist eine sehr mathematische Form, mit dem Unglück umzugehen. Vielleicht ist es auch nur eine praktische Nüchternheit, die einer auf seinem hundertjährigen Weg erwirbt, der von immer weniger Menschen begleitet wird. Jetzt wartet die Tochter auf ein Einzelzimmer im Pflegeheim. »Was sind das für Zustände, in denen man darauf warten muß, daß jemand stirbt«, sagt ihre Mutter. Vor allem Künstler sind damals ins Haus gekommen, haben Teile davon gekauft und umgebaut. »Ich habe immer an der Tür gelauscht, ob jemand im Gang war und bin dann erst hinuntergegangen«, sagt Lotte Kirchberger. Damals begannen auch die Hausfeste, die jungen Leute haben auch die alte Dame geholt, aber gefreut hat es sie nicht. Das »Flapsige der Jugend« war nicht ihre Sache. »Es war mir unangenehm, weil ich nicht wußte, wie ich mich ausgleichen konnte«, erklärt sie. »Ausgleichen« klingt ungewohnt für heutige Ohren, vielleicht meint es »vertraut machen«, und niemand weiß, wie man es in fünfzig Jahren nennen wird. Lotte Kirchberger hat wenig Schüchternes an sich, aber vielleicht muß man sich ein solches Treffen wie die Reise in ein fremdes Land vorstellen. Man begegnet ungewohnten Sitten und Denkweisen, und die Tatsache, daß man scheinbar die gleiche Sprache spricht, macht es nur noch verwirrender. Wenn man 100 Jahre alt geworden ist, bleibt niemand mehr, der »Fräulein« sagt, wie Lotte Kirchberger, und sich an den Geburtstag des Kaisers erinnert. Inzwischen sind die jungen Leute älter geworden, haben geheiratet und Kinder bekommen. Lotte Kirchberger sagt, man habe sich »zusammengerauft«, aber das Wort gefällt ihr dann doch nicht, weil es so hart klingt. »Es ist ein Ausgleich entstanden«, meint sie. »Alles ist vernünftig und anständig«, und das ist ein großes Lob aus ihrem Mund. Im Hausflur hängen Fotos der letzten Hausfeste. »Lotte ist 95« steht mit Kreide auf dem Hof, und im Hintergrund sieht man Feuerschlucker und Akrobaten. »Wenn ich eine Fünf oder Null in meinem Geburtstag habe, wird das hier gefeiert«, sagt Lotte Kirchberger und dann schleicht sich noch ein »wir» ein: »Das machen wir schon jahrelang.« Kürzlich hat sie von ihrem Mann geträumt. Zum ersten Mal, seitdem sie die Waldemarstraße verlassen hat. »Wie lange soll ich noch auf dich warten«, hat er gefragt. »Verrückt«, sagt Lotte Kirchberger und lacht ihr heiseres Lachen, »es geht mir nicht mehr aus dem Kopf«. <br> |