März 2002 - Ausgabe 35
Die Freizeit
Badminton der Vierzigjährigen von Michael Unfried |
Kreuzberger sind leidenschaftlicher Sportler. Das sind sie nicht immer gewesen. Im Gegenteil: Sport war Mord, Sport war aus den Kasernen entwichen, und Sport stand nicht im Einklang mit einem gesunden Geist, wie einst ein alter Philosoph einmal formulierte, sondern in krassem Gegensatz zu auch nur einer Spur von Intelligenz. Sogar der Fußballfan, der extrem defensive Fußballvoyeur, mußte sich in den wilden Jahren dem Vorwurf politischer Inkorrektheit aussetzen, wenn er sich mit einer Flasche Bier vor einen Fernseher setzte. Aber nachdem all die alten Altachtundsechziger und längst auch ihr Nachwuchs in die Jahre gekommen sind, seit all diese Intellektuellen und Künstler und alternativen Blumentopfhersteller ihre vom Leid gebeugten Rücken verspüren, sind die Kreuzberger leidenschaftliche Sportler. Seitdem haben sie es nicht nur in der unolympischen Disziplin des Pflastersteinwerfens zu Ruhm und Ehre gebracht, nein, auch im Badminton hielt sich ein Kreuzberger Verein jahrelang an der Tabellenspitze. Und mit der tatkräftigen Unterstützung einiger eingewanderter Schweden wurden die Kreuzberger sogar zweimal deutscher Meister. Den Kreuzberger Freizeitsportlern allerdings geht es weniger um Meistertitel als zuerst einmal um die Gesundheit. Wer sieht, wie sie sich ausgerechnet in der Hasenheide, wo vor ewigen Zeiten Turnvater Jahn die ersten Gymnastikübungen erfand, warmlaufen, wie sie die Arme über das steife Genick strecken und ihre Fußgelenke zu verbiegen versuchen, wie sie Kniebeugen aus dem vorvorigen Jahrhundert imitieren, der weiß: Die Jugend ist vergänglich. Die komplette Badmintonhalle haben sich die Vierzigjährigen gemietet und vertreten somit die berühmte »Kreuzberger Mischung«: Das Spektrum reicht vom Arbeitslosen über den Gartenbauer, Künstler, Mediengestalter, Mediziner, Weinhändler bis hin zum Knopfverkäufer. Doch an der Front und am Netz sind alle gleich, und wenn im Kampf um die Punkte das Blut in Wallung gerät, mutiert selbst der empfindsame Brunnenbauer aus der mit klassischer Musik und friedlichem Wassergeplätscher erfüllten Galerie Fluidum wieder zum kämpferischen Bundeswehrsoldaten, dann hechtet der gemütliche Knopfverkäufer dem rasenden Federball hinterher wie Ikarus, dann reißt sich die um Gesundheit besorgte Ärztin ihre Achillessehne und erschüttert der schüchterne und sonst wortkarge Journalist mit einem markdurchdringenden Schrei die Halle: »VERDAMMTE SCHEISSE!« Beim Badminton fallen die Masken, alte Freunde begrüßen einander mit einem freudigen »Ich mach’ dich fertig!«, während beim Doppel die Frau aus dem Mieterladen und die Frau mit dem Baby ihren ergrauten Männern mit der »Frauenpower« drohen. Auch der Bioweinhändler läuft zu außergewöhnlicher gymnastischer Form auf und bewegt seine »85 Kilo gebändigter Kraft« mit erstaunlicher Geschwindigkeit über das kleine Spielfeld, um die Bälle aus den hintersten Winkeln wieder vorzuholen, während seine Partnerin elegant am Netz steht und darauf wartet, daß auch für sie einmal wieder ein Ball vorbeikommt. So setzen die alternden Kreuzberger wenigstens beim Badminton noch einmal kollektiv ihre 200 Gelenke in Bewegung, strecken auf der Jagd nach den hohen Returns ihre Wirbelsäulen in die Länge bis sie knacken, pumpen Luft in ihre verklebten Lungen wie die Maikäfer vor dem Start und schwitzen literweise ihr Büromiefgemisch aus Aschenbecheraroma, Kaffeeduft und Bierdunst aus, bis sie am Ende wieder wie ganz normale Menschen riechen. Dann gehen alle in die Primel und rauchen und trinken Kaffee oder Bier oder essen Kuchen, und schon nach einer halben Stunde sind aus den Kreuzberger Freizeitsportlern wieder ganz normale Kreuzberger Alternative geworden. Und wenn sie sich dann endlich von der bequemen Bank erheben wollen, greifen sie sich schon wieder ans Kreuz, stöhnen und klagen über den gepeinigten Rücken. Bis zum nächsten Samstag. <br> |