Juni 2002 - Ausgabe 38
Die Literatur
Günter Grass: Mein Jahrhundert - 1901 von Günter Grass |
Wer sucht, der findet. Ich habe schon immer im Trödel gekramt. Am Chamissoplatz, und zwar bei einem Händler, der mit schwarzweißem Ladenschild Antiquitäten versprach, doch zwischen dessen Ramsch sich wertvolle Stücke nur tief verborgen fanden, wohl aber Kuriositäten meine Neugierde weckten, entdeckte ich gegen Ende der fünfziger Jahre drei mit einem Bindfaden verschnürte Ansichtskarten, deren Motive als Moschee, Grabkirche und Klagemauer matt schimmerten. Im Januar fünfundvierzig in Jerusalem gestempelt, waren sie an einen gewissen Doktor Benn mit Adresse in Berlin gerichtet, doch war es der Post während der letzten Kriegsmonate nicht gelungen, den Adressaten – was ein Stempel beglaubigte – zwischen den Trümmern der Stadt ausfindig zu machen. Ein Glück, daß ihnen Kurtchen Mühlenhaupts Fundgrube im Bezirk Kreuzberg Zuflucht gewährt hatte. Der von Strichmännchen und Kometenschweifen durchwebte Text, fortlaufend über alle drei Karten, war nur mühsam zu entziffern und las sich so: »Wie doch die Zeit kopfsteht! Heute, am allerersten März, da das gerade erblühte Jahrhundert steifbeinig mit einer Eins prangt und Du, mein Barbar und Tiger, in fernen Dschungeln gierig nach Fleisch bist, nahm mich mein Vater Schüler bei seiner Eulenspiegelhand, um mit mir und meinem gläsernen Herzen die Schwebebahn von Barmen nach Elberfeld zur jungfräulichen Fahrt zu besteigen. Über die schwarze Wupper hinweg! Ein stahlharter Drachen ist es, der tausendfüßig sich windet und wendet über den Fluß, den die bibelfrommen Berber gegen wenig Lohn mit den Abwässern ihrer Tinten schwärzen. Und immerfort fliegt mit tosendem Getön das Bahnschiff durch die Lüfte, während auf schweren Ringfüßen der Drache schreitet. Ach, könntest doch Du, mein Giselher, an dessen süßem Mund ich soviel Seligkeiten durchbebte, mit mir, Deiner Sulamit – oder soll ich Jussuf der Prinz sein? –, so über den Totenfluß Styx, der die andere Wupper ist, hinwegschweben, bis wir im Sturz verjüngt vereint verglühn. Aber nein, ich bin ja gerettet, auf heiliger Erde und lebe ganz dem Messias versprochen, während Du verloren bleibst, mir abtrünnig geworden, hartgesichtiger Verräter, Barbar, der Du bist. Wehgeschrei! Siehst Du den schwarzen Schwan auf schwarzer Wupper? Hörst Du mein Lied, klagend gestimmt auf blauem Klavier? – Doch nun müssen wir aussteigen, sagt Vater Schüler zu seiner Else. Auf Erden war ich ihm zumeist ein folgsames Kind …« Kurt Mühlenhaupt im Innenhof (Trödel), Blücherstraße 11, Oktober 1967 Foto: Axel Benzmann
Nun ist zwar bekannt, daß Else Schüler am Tag, als die erste, viereinhalb Kilometer lange Teilstrecke der Wuppertaler Schwebebahn festlich für den öffentlichen Verkehr freigegeben wurde, kein Kind, vielmehr gut dreißig Jahre alt, mit Berthold Lasker verheiratet und seit zwei Jahren Mutter eines Sohnes war, aber das Alter ist ihren Wünschen jederzeit gefügig gewesen, weshalb die drei Lebenszeichen aus Jerusalem, adressiert an Doktor Benn, frankiert und abgeschickt kurz vor ihrem Tod, ohnehin alles besser wußten. Ich feilschte nicht lange, zahlte für die wiederum verschnürten Karten einen Liebhaberpreis, und Kurtchen Mühlenhaupt, dessen Trödel schon immer besonders war, zwinkerte mir zu. <br> |