Juni 2002 - Ausgabe 38
Herr D.
Herr D. auf der Buchnacht von Hans W. Korfmann |
Es war eine dieser lauen Sommernächte, in denen Berlin nicht an der spröden Spree, sondern am Mittelmeer zu liegen schien. Die Tische standen auf den Straßen, gegessen und getrunken wurde draußen, das Volk wanderte umher und besah sich seine Stadt und seine Einwohner. Also auch Herr D. Aber diese Nacht war eine besondere. Es war die Lange Buchnacht. In den Bibliotheken standen sie und lauschten den Worten, in den Buchläden sangen Liedermacher ihre Texte zur Gitarre, selbst auf der Straße krümmten sich Dichter im Schein der Leselampen über ihr Werk. Überall Stühle und Tische, die Oranienstraße war ein einziges Wohnzimmer, aus den Küchen duftete es nach Falafel und orientalischem Gebäck. Die Nacht war voller Wohlgerüche und die Frauen wurden von Stunde zu Stunde schöner. Herr D. fand, daß sich Berlin im Sommer und Berlin im Winter etwa so zueinander verhielten wie Dr. Jekyll zu Mr. Hyde. Herr D. hatte Durst und setzte sich an einen Tisch, an dessen Ende einige junge Leute saßen und sich unterhielten. Neben ihm saß ein Herr mit silbergrauem Haar, einem Buch vor sich und einer jungen Schönheit neben sich. Als nach zehn Minuten noch immer kein Kellner gekommen war, stand sein Nachbar auf, verbeugte sich vor seiner Blonden und fragte, was es sein dürfe. »Ein Mineralwasser«, sagte sie. Der Graue wollte mit der Bestellung davongehen, da sagte Herr D.: »Könnten Sie mir ein Pils mitbringen?« – »Und hier noch zwei Caipirinha, ein Rotwein, ein Hefeweizen und …«, rief die Runde. Der Graue mußte aber eingestehen, daß er sich das unmöglich merken könne. Er sei schon bei zwei Getränken völlig überfordert. Am Tisch mit dem mineralwassertrinkenden Pärchen und der weinseligen Vierergruppe am anderen Ende herrschte bald eine familiäre Stimmung: »Das muß man sich einmal überlegen. Diese Dinger gibt es seit 1920. Und jetzt, fast ein Jahrhundert später, kommt man plötzlich darauf, daß es sie nur in einer einzigen Größe gibt!« Die Frauen kicherten und die Männer fühlten sich in ihrem Element. »Da stellt man plötzlich fest, daß die Dinger nicht dicht sind, weil sie nicht richtig sitzen. Bis zu 70 Prozent nicht sicher sind! Daß es ganz einfach verschiedene Größen geben müßte: S, M, L und XL – ist doch klar!« »Da muß man die Automaten ja mit einem Sichtschutz versehen, um eine gewisse Diskretion zu wahren«, wagte eine der Damen einen nicht unberechtigten Einwand. Auch der graue Nachbar an Herrn D.s Seite mischte sich nun in das Gespräch: »Ich bin da kein Fachmann, aber so viel ich weiß, ist die Relation der Länge des Präservativs zur Länge des Trägers relativ gleichgültig. Man braucht die Dinger ja nicht in ganzer Länge aufzurollen, sondern nimmt eben nur so viele Zentimeter, wie man braucht.« »Genau!« – meldete sich der Fachmann vom anderen Ende, »aber was ist mit der Breite! Das eigentliche Problem ist ja der Umfang des Ringes. Und der rollt eben auch! Rauf und runter, rauf und runter …« »Man müßte einen One-Size-Präser erfinden!«, schaltete sich D. ein. »Stretch!«, sagte kühl die Blonde und nippte am Mineralwasser. Allmählich kam man ins Phantasieren, am Ende fanden sich in der Oranienstraße einige interessante Varianten zur Schließung der Marktlücke. »Denn das Schlimme ist ja, daß es sich hier nicht um ein lapidares Vergessen handelt, sondern um ein folgenschweres Versäumnis. Wenn das Ding nicht sitzt, dann hat das ja nicht selten unvorhersehbare Spätfolgen …« Endlich, nach zwei Stunden, zahlte man und erhob sich. Nur die Frau mit dem Mineralwasser zögerte noch. »Ich trau mich nicht!«, sagte sie und sah ihren grauen Mann an. »Nu mach schon!« Schüchtern lächelnd und etwas umständlich rückte sie ihren Stuhl fast einen ganzen Meter zurück, um den melonenförmig angeschwollenen Bauch über die Tischkante zu erheben. <br> |