Juni 2002 - Ausgabe 38
Reportagen, Gespräche, Interviews
Über das traurige Ende der Literatur von Peter Unsold |
Aber das ist doch alles eitles Gewichse, was die sogenannten Literaten heute von sich geben! – Der Abend war vorangeschritten, die Uhr beharrlich weitergelaufen, ungeachtet der kleinen Runde, die sich da in dem billigen italienischen Restaurant in der Kreuzbergstraße um einige Pizzen versammelt hatte, dann einen Wein nach dem anderen bestellte und über so wichtige Themen wie die Sterblichkeit der Literatur diskutierte. Darauf gekommen waren sie, weil eine Literatin mit am Tisch saß, eine bislang unveröffentlichte, aber schließlich junge Autorin, die apart aussah, schnell und viel sprechen konnte, und das auch ausgiebig tat. Im Grunde brachte sie alles mit, was eine Schriftstellerin vorweisen mußte, sie hätte jeden Talkshow-Auftritt unbeschadet überstanden. Weil niemand auf das finale, indiskutable Urteil des älteren Herren mit der Knollennase eingehen wollte, wiederholte er seinen Satz noch einmal: »Alles ein einziges Gewichse!« Schon schien es, als sei das Gespräch endlich beendet, da erhob die Literatin Einspruch und verteidigte ihre Zunft. »So würde ich das nicht sagen. Es ist natürlich eine Menge Mist dabei, aber wenn man bedenkt, wieviel heute so veröffentlicht und ja auch verkauft wird – alle drei Sekunden kommt ein Buch auf den Markt –, dann ist es doch schon wieder erstaunlich, was dabei rauskommt. Allein aus Kreuzberg sind doch letztes Jahr drei vielbeachtete Romane gekommen, ich weiß gar nicht mehr, wie die hießen, das eine war diese Liebesgeschichte mit dem langen Spaziergang am Kanal, das andere von diesem Ulrich Peltzer, dieser Krimi. Das war doch beides richtige Literatur. Und dann noch der Herr Lehmann. In Kreuzberg ständig ausverkauft. Eine Freundin hat mir erzählt, daß sie zum Geburtstag gleich dreimal den Herr Lehmann geschenkt bekam. Das ist doch was!« »Kreuzberger Lokalpatriotismus!«, sagte die Knollennase. »So einfach kannst du das nicht abtun«, sagte die Schriftstellerin, »Der spielte sicher eine Rolle, aber das Buch verkauft sich ja auch in Frankfurt und in Hamburg.« »Weil der Typ eben seit zehn Jahren mit einer Band auf der Bühne steht. Und schon die hatten doch nur Erfolg, weil sie sich nach dem Film benannt und in den Windschatten von Lars van Thrier gehängt haben. Die ganze Band und der ganze Herr Lehmann sind doch nur Nebenwirkungen, das eigentliche Kunstwerk ist der Film Element of Crime. Denn der ist wirklich gut. Das sieht man schon daran, daß niemand ihn versteht!« Die bislang an einen leichten Rosé erinnernde Knollennase nahm während des heftigen Lachausbruchs die tiefrote Farbe eines Burgunders an. Der Mann mit der Knollennase hatte etwas Diabolisches. Der Kellner warf einen besorgten Blick auf den intellektuellen Tisch, dann sah er auf seine Armbanduhr. Die zweite Frau am Tisch, auch eine junge, mit kurzen Haaren, Jackett und Brille, die bisher meistens zugehört hatte, und von der keiner so recht wußte, weshalb sie hier war, lächelte ein bißchen und sagte dann: »Ja, so funktioniert das eben heute. Die Zeiten, als ein Schriftsteller nachdenklich hinter seinem Schreibtisch saß und in aller Ruhe geordnete Gedanken zu Papier brachte, sind vorüber. Man muß heute alle Register ziehen, wenn man ein Buch verkaufen will. Da gehören Empfänge und Fernsehauftritte, Interviews, Lesereisen und eine interessante Biographie dazu. Außerdem sollte das Buch noch gut geschrieben sein. Also entweder humor- oder gehaltvoll. Der Sven Regener bringt das eben alles mit. Deshalb verkauft er sich.« »Wer bist du denn überhaupt?«, fragte die Knollennase, aber er sah die junge Frau nicht an dabei, er sah ins Glas. »Ich habe eine Literaturagentur.« »Aha!«, murmelte die Knollennase in ihren weißen Bart. »Du bist also ein Mitglied dieser Verbrecherbande!« Dann sah er zu der bislang erfolglosen Literatin hinüber und sagte: »Hast du es also doch aufgegeben, monatlich für fünfzig Mark Briefmarken zu kaufen, um Manuskripte zu verschicken, weil sie Dir auf Deine 500 Seiten immer mit dem gleichen Dreizeiler antworteten: Paßt nicht in unser Verlagsprofil!« Wieder erschütterte ihn ein Lachanfall, der diesmal nahtlos in einen nicht weniger bösartigen Hustenanfall überging. »Aber mach Dir nichts draus, das ist ja auch anderen Berühmtheiten so gegangen.« »Martina und ich kennen uns schon seit ewigen Zeiten, und wenn sie nun einmal Agentin ist, dann wäre es doch dumm …« »Das sagen sie alle! Denk doch mal, wie viele Leute man seit ewigen Zeiten kennt, und warum man sich dann plötzlich wieder an den einen oder anderen erinnert!« »Aber es läuft doch überall so – du bekommst ja heute ohne Beziehungen nicht mal mehr `nen Job als Pförtner. Ich wär doch blöd, wenn ich das Zeug alles in der Schublade vergammeln ließe. Denn so schlecht ist es auch wieder nicht. Wenn ich sehe, was da manchmal so alles gedruckt wird, da lieg ich mindestens im Mittelfeld." »Das ist ja das Schlimme! Das Mittelfeld! Nichts ist schlimmer als das Mittelfeld. Früher gab es geniale Bücher und furchtbar schlechte Bücher, heute gibt es nur noch Mittelfeld. Weil jeder Depp anfängt, ein Buch zu schreiben. Jeder Depp. Der muß nicht einmal Sänger oder Politiker oder Bergsteiger sein, jeder, der aus irgendeinem Grund zweimal in der Zeitung gestanden hat, fängt an zu schreiben. Weil die Verlage und die Agenturen sagen, der interessiert die Leute, den kennen sie schon, den drucken wir, den können wir ins Fernsehen schicken.« »Es muß ja nicht jedes Buch gleich ein Werther sein!«, verteidigte sich die Agentin. »Es gibt durchaus auch gute mittelmäßige Literatur!« »Gute mittelmäßige Literatur!", äffte die Knollennase nach, »Wenn ich das schon höre. Gute mittelmäßige! Es gibt nur gute oder schlechte Literatur. Der Rest ist Gewichse. Und heute gibt es eben nur noch Reste. Die Literatur ist auf dem Ramschtisch gelandet, im Ausverkauf!« Es sah so aus, als meinte er die Rede ernst. Jedenfalls blieb selbst das boshafte Lachen aus, das sonst seinen Sätzen folgte wie der Donner auf den Blitz und immerhin für eine gewisse Erleichterung unter den Tischgästen sorgte. Der Kellner sah schon wieder besorgt auf die Uhr, doch die Agentin ließ sich so schnell nicht einschüchtern. Sonst wäre sie keine Agentin gewesen. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, was für Leute eigentlich Bücher lesen. Und was diese Leute eigentlich für Bücher lesen. Geh doch mal im Urlaub in irgendein Hotelzimmer und sieh Dir an, was die Leute lesen. Glaubst du, die wollen alle nur so intellektuelles Zeug lesen. Erstaunlicherweise lächelte die Knollennase jetzt. Offensichtlich freute es ihn, daß endlich noch jemand böse wurde, und daß er nicht allein um die Literatur stritt. Er zupfte ein wenig am Bart und sagte: »Da hast du ja recht. Aber Schuld am schlechten Geschmack sind doch die Verlage, die so dummes Zeug unters Volk bringen. Wenn sie das nicht drucken würden, würden die Leute eben etwas anderes lesen.« »Oder gar nichts!«, lächelte die Agentin. »Und stell Dir vor, die Leute würden gar nichts mehr lesen, nur noch diese idiotischen Filme im Fernsehen sehen, diese Revolvergebrauchsanweisungen von RTL und SAT1, stell Dir das doch mal vor! Da ist mir’s doch lieber, es liest jemand einen Liebesroman, und wenn der noch so schnulzig ist. Da macht sich der Leser doch wenigstens noch sein eigenes Bild, da entsteht die Welt wenigstens noch im Kopf und nicht fertig auf dem Bildschirm.« Die erfolglose Literatin hatte auch wieder etwas sagen müssen, und es war, dem Nicken der Knollennase nach zu urteilen, gar nicht so schlecht gewesen. »Das Schlimmste ist doch«, sagte nun endlich der geheimnisumwobene Vierte am Tisch, der in Begleitung der erfolglosen Autorin aufgetaucht war und im unausgesprochenen Verdacht stand, womöglich ein erfolgreicher Autor und ein potentieller Windschattenspender für erfolglose Literatinnen zu sein, und der den Abend über nur einen einzigen Satz gesagte hatte, nämlich eine Pizza Margarita bitte, dieser Schweigsame sagte nun, »das Schlimmste ist doch, daß jedes 2. Buch mit Ich anfängt und von irgendwelchen Liebesgeschichten erzählt. Zeig mir mal ein Buch, das ohne Liebe auskommt. Ohne peinliche Geständnisse. Sogar die Zeitungen, sogar das Feuilleton ist voll mit plappernden Ich-Erzählern. Lauter Erlebnisberichte, als wäre die Zeitung ein Poesiealbum.« »Das ist eben der Trend im Moment«, sagte die Agentin, »wenn einer Ich sagt, dann sieht es so aus, als wäre es authentisch. Außerdem ist es intim. Und wir leben in einer Zeit, in der das Innerste nach Außen gestülpt wird.« »Das Innerste im Menschen stinkt«, sagte die Knolle. »Was interessieren mich die Eingeweide von Pseudo-Literaten. Ich will Literatur. Romane. Geschichten. Die großen Romane haben alle ihre phantastischen Figuren. Dostojewskij zum Beispiel, ein wahnsinniges Personal in jedem Roman, jeder Typ ein Spinner für sich, jedes Buch eine Welt für sich. Oder Hundert Jahre Einsamkeit, ein ganzes Dorf ist da entstanden, da lebst du drin, mit all den Leuten, die er beschreibt, ärgerst und freust dich mit denen.« »Es gibt aber auch gute Ich-Erzähler!«, verteidigte sich die erfolglose Schriftstellerin. »Ich schreibe auch immer in der ersten Person. Da hat man einfach unheimlich viele Möglichkeiten!« »Und deshalb verirren sich auch alle. Die kommen doch, sobald sie diese drei verfluchten Buchstaben hingeschrieben haben, vom Hölzchen aufs Stöckchen, verlieren den Faden, da dreht sich am Ende alles ums Ich, immer im Kreis, als wäre das Ich der Mittelpunkt der Welt.« »Das ist eben so eine deutsche Eigenart, sich vor allem mit sich selbst zu beschäftigen!«, sagte die Agentin. »Auch nicht wahr. Auch die erfolgreichen deutschen Bücher der letzten Jahre hatten doch ihre auktorialen Erzähler. Das Parfum, die Entdeckung der Langsamkeit …«, sagte die Erfolglose. »Der Vorleser …!«, ergänzte der Geheimnisvolle, aber Knolle fiel ihm krächzend ins Wort: »Ein furchtbar schlechtes Buch! Voller Selbstgefälligkeiten und Eitelkeiten! Und noch dazu in einer viel zu braven, einer veralteten und sentimentalen Sprache geschrieben. Dieser Autor Schlink schafft es einfach nicht, sich aus der Geschichte – die ja an und für sich gut durchdacht ist – herauszuhalten. Immer wieder mischt er sich ein und muß seinen Figuren dazwischenreden. Gerade, wenn sie uns wieder zu interessieren beginnen, beginnt er, uns von seiner Befindlichkeit zu erzählen und zu langweilen. Das ist schlicht und einfach ärgerlich, sehr ärgerlich. Es gibt aber eine einzige wirklich gute Stelle in diesem Buch, und deshalb lohnt es sich, es zu lesen. Man muß es ja nicht gleich kaufen, man kann es sich ja auch leihen. Die Stelle ist dort, wo seine Geliebte ihm erzählt, wie sie die Juden in die Kirche sperrt und verbrennen läßt. Das ist die einzige Stelle, an der der Erzähler zurücktritt und einen andern, nämlich die literarische Figur erzählen läßt. – Die Liebesgeschichte, schön und gut, sie mag ja für den einen oder anderen Leser vielleicht ihre Reize haben –, aber wir Älteren haben die schon hundertmal gelesen.« »Du erinnerst mich an einen gewissen Fernsehmoderator«, sagte die Agentin. »Ich bin auch ein guter Moderator. Ich hatte mal ein Theater hier in Kreuzberg!«, sagte Knolle. »Da trafen sich montags immer die sogenannten Literaten. Das Autorenforum. Da waren sogar gute Leute dabei. Einige haben es zu was gebracht, zu Geld meine ich. Der Kumpfmüller zum Beispiel, oder Felicitas Hoppe. Das war schon lustig, die stritten bis aufs Blut, und die letzten gingen, wenn’s hell wurde. Aber das ist nun auch schon wieder zehn Jahre her. Wir hätten Eintritt nehmen können, so gut war das. Wir hatten schon keine Stühle mehr für die vielen Leute. Das war lebendige Literatur! Ranicki ist nichts dagegen.« »Und was ist daraus geworden?« – »Das übliche. Der Senat hat uns die ABM-Stelle fürs Theater gestrichen und der Besitzer gleichzeitig die Miete erhöht. Und das Forum ist nach Steglitz ausgewandert, in die Schwarzsche Villa. Nach Steglitz! Da lesen sie jetzt vor fünf häkelnden Muttis.« <br> |