Juli / August 2002 - Ausgabe 39
Der Monat
Der Wasserturm wankt von Hans W. Korfmann |
Sie zeigen sich entrüstet über die Pisa-Studie und geben sich schockiert anläßlich des Racheaktes eines enttäuschten Erfurter Schülers. Sie überstürzen sich mit Versprechungen und Mitleidsbekundungen. Doch selten klaffte die politische Rede und das politische Handeln so weit auseinander wie jetzt. Denn trotz der warnenden Signale aus der Gesellschaft spart die verarmte Hauptstadt weiter am falschen Ende. Allein die Zuwendungen an Sachmitteln und Honoraren für die Jugendzentren in Friedrichshain-Kreuzberg werden im Haushalt 2002 um knapp 500000 Euro geringer ausfallen als im vergangenen Jahr. Insgesamt aber sollen, so die ersten Gerüchte, in diesem Bereich 8 Millionen Euro eingespart werden – vor allem durch die Auflösung und Zusammenlegung einzelner Jugendzentren in den fusionierten Bezirken. Angesichts einer weiter ansteigenden Jugendarbeitslosigkeit, fehlenden Ausbildungsplätzen und einer eurotischen Inflationsrate erscheint dies als leichtsinnige Maßnahme, deren Konsequenzen sich schon heute abzeichnen. Yusuf Yilmaz aus dem Jugendzentrum im Kreuzberger Wasserturm sagt es schlicht: »Wenn die den Wasserturm schließen, dann wollen sie es doch nicht anders. Dann werden die Jugendlichen eben noch mehr Scheiße bauen.« Yusuf Yilmaz kennt den Turm seit zehn Jahren. »Ich spreche aus Erfahrung. Ich weiß, wie es ist, wenn man auf der Straße lebt. Ich hab auch schon ’ne Menge Scheiße gemacht.« Er zeigt die kleinen Narben am Handgelenk mit dem Stolz eines Kriegsveterans, auch wenn er eigentlich die rauhe Wirklichkeit der Straße demonstrieren wollte. Er steckt, wie so viele seiner türkischen Altersgenossen, im Zwiespalt, irgendwo zwischen Heimat und Fremde. Der Turm ist ein Stück Heimat, und die Straße ist die Fremde. Foto: Wasserturm
Yusuf Yilmaz erzählt nicht ohne Stolz von der neuen Tischtennisplatte, die sein Verein der bezirkseigenen Jugendeinrichtung Wasserturm zusteuern konnte. Ohne ihre Initiative und die wenigen Einnahmen aus dem Café des Vereins hätten sie wohl weiter auf der schiefen Platte und mit ungerechten Ergebnissen spielen müssen. Denn der Bezirk hat kaum noch Geld übrig für sein Projekt in den denkmalgeschützten Wänden – nicht einmal für eine Tischtennisplatte. »Ohne die Kooperation mit dem Verein wäre die Arbeit im Wasserturm so nicht mehr möglich«, sagt Jochem Griese, der langjährige Leiter des Projektes. Auch, wenn die finanziellen Ressourcen des Vereins mit seinen zehn Mitgliedern niemals ausreichen werden, um die sinnvollen Nachrüstungen im ständig ausgebuchten Tonstudio oder der Druckerei zu finanzieren. Das traditionelle Straßenfest am Chamissoplatz z. B. wäre ohne den Wasserturm e.V. längst gestorben. Doch als sich vor zwei Jahren keine Organisatoren und erst recht keine Sponsoren mehr fanden, entschloß sich der Verein, es in kleinerem Rahmen weiterleben zu lassen, mangelnde Gelder durch Eigenarbeit zu kompensieren und den Rest vom Schützenfest durch die Gelder der Standmieten zu finanzieren. Jetzt heißt es nicht mehr Chamissoplatzfest, sondern »All along the Watertower«. Immer wieder in seiner 20jährigen Geschichte des Turms machte das Jugendzentrum auf sich aufmerksam: Man organisierte ein gemischtes Kickturnier, in dem nur die Frauen Tore schießen durften, oder das Rockfestival am Wannsee. Beim Spreebeben, dem skurrilen Bootebauwettbewerb, belegte die verrückte BSE-Kuh vom Wasserturm Platz 2 und war in den Tageszeitungen abgelichtet, im Café zeugen zehn Siegerpokale vom sportlichen Einsatz der Wasserturmgemeinde. Was für Außenstehende nur unbedeutende Siege sind, zählt für die jungen Bewohner des Viertels und die vier Sozialarbeiter im Turm weit mehr. Für die einen, denen Schule und Beruf meist wenig Lorbeeren bescherten, sind die kleinen Erfolge auf Sportplätzen oder Musikbühnen eine lang ausgebliebene Anerkennung. Für die Pädagogen im Wasserturm wiederum sind diese Aktivitäten ein wichtiger Schritt auf dem Weg in die Integration in eine Gesellschaft, die für manche Jugendliche kaum noch Türen offenhält: Beim Berlin-Marathon aber laufen die Wasserturmler mit den Sechzigjährigen, sie stehen im Café, wenn ein Paar sich im runden Saal des Turms trauen läßt oder wenn der stadtbekannte Doktor Seltsam Kleinkunst auf der Bühne präsentiert. »Es ist noch nicht lange her«, sagt Jochem Griese, »da sahen die Jugendeinrichtungen alle gleich aus. Es gab eine Teestube, ein Fotolabor und eine Metall- oder Holzwerkstatt.« Das hat sich geändert, und inzwischen haben die einzelnen Projekte ihre verschiedenen Zielsetzungen. Das Konzept des Wasserturms sieht vor, die Jugendlichen aus einer Isolation zu befreien, in die sie häufig gerade durch die Jugendeinrichtungen gelangen. Denn die eigens für sie eingerichteten Freiräume führen oft zu einer Ausgliederung anstatt zu einer Eingliederung, die Wirklichkeit blieb draußen auf der Straße. Foto: Wasserturm
Auch keiner der Räume des Wasserturms. Peter Biernoth, 13 Jahre lang im Statthaus Böcklerpark und seit einigen Jahren im Turm, fürchtet um sein begehrtes Tonstudio und die Bands, die den Turm beleben. Und Sabine Blankenheimer, die mit ihrer jugendlichen Redaktion zuerst Kidsblitz und jetzt City Youth herausgibt, sorgt sich um die hauseigene Druckerei. Dabei hatten schon das Fernsehen und die Neue Zürcher Zeitung über die Jugendzeitschrift berichtet. Und Achmet Aldemir, mit acht Dienstjahren der Zweitdienstälteste im Team, denkt darüber nach, ob die ausländischen Jugendlichen noch kommen werden, wenn jetzt im Wasserturm ein Kindergarten einzöge. Etwa fünfzig Prozent der Jugendlichen im Turm kommen ursprünglich aus der Türkei. Es gab sogar Zeiten, in denen die türkische Sprache in der Fidicinstraße vorherrschte. Wilde Zeiten, in denen »an jedem Wochenende die Polizei vor der Tür stand«, in denen es Rangeleien und bedrohliche Situationen gab. Das Leben im Turm war eben nicht das eines Biotops, sondern das wirkliche. Aus den kleinen Jungs wurden große Jungs, die ihren Erziehern mit dem Messer vor der Nase herumfuchtelten. Auch wenn sie es nicht sonderlich ernst meinten: Sie gefährdeten damit das gesamte Projekt, denn der Wasserturm kam ins Gerede, und für zwei Jahre schloß man das Café, das erste Hausverbot wurde ausgesprochen. Ein Teil der stürmischen türkischen Jugend blieb der Einrichtung fern und entwich auf die Straße. Einige sind nie wieder aufgetaucht, einige haben in dieser Zeit einen Job gefunden oder eine Ausbildung begonnen. Andere sind zurückgekehrt. Sie sitzen jetzt wieder am Tresen im Café, ganz wie vor zwei Jahren, reden über die alten Geschichten oder die neuen. Lassen sich beim Schreiben ihrer Bewerbungen helfen oder nutzen das Tonstudio, um ihren Berliner Rap für immer und ewig in eine CD zu brennen. Auch das ist ein Erfolg. Der Turm ist eben für manche ein seltenes Stück Heimat. Ein Nest, dem sie treu bleiben, wie die Turmfalken auf dem Dach des Wasserturms. Denn jetzt, wo sie einmal draußen waren, merken sie, daß sogar die Schule so etwas wie ein Nest war – doch das haben sie für immer verlassen. Zwar nervte sie damals »diese Langeweile immer, jeden Tag dasselbe, Aufstehen, Schulegehen, Bücher raus … – und immer dieselben Gesichter. Aber jetzt vermiß ich das manchmal.« Yusuf Yilmaz lacht darüber, schließlich war er »nicht immer der Beste« in der Klasse, er hatte es nicht leicht. Aber jetzt könnte er sich das schon wieder vorstellen: Zur Schule gehen, das Fachabitur machen, studieren … Im Grunde stünde ihm der Weg offen, seine Ausbildung hat er abgeschlossen, ein Papier hat er in der Hand. »Aber wenn da Einzelhandelskaufmann draufsteht, was ist das schon! – Naja, immerhin …«. Yusuf ante portas Foto: Dieter Peters
Doch der Weg zurück an die Schulbank wäre ein schwerer. »Ich glaube nicht, daß ich das schaffe«, sagt Yusuf. In den Wasserturm aber hat er es geschafft. Yusuf Yilmaz ist jetzt im Vorstand des Vereins, er spielt Schlagzeug, und er hat Ideen, viele Ideen … Die meisten lassen sich nicht verwirklichen. Es fehlt an Geld, auch an Mitgliedern. »Wir schaffen das eben nicht alles allein. Mit den paar Mark aus dem Café. Und ich hab auch nicht immer Zeit. Ich hab ja auch noch ein Privatleben!«, sagt Yusuf Yilmaz und macht ein ernstes Gesicht. Es klingt ein bißchen, als wäre er ein Einzelhandelskaufmann im Vorstand einer Bank. Dabei hat er mehr Zeit, als ihm lieb ist. Wie auch andere hier. Aber er hat eine Aufgabe. »Immerhin…«. Yusuf Yilmaz weiß, daß der Turm nur ein Strohhalm ist, an den er sich klammert. »Das ist unser Jugendzentrum!«, sagt er und legt dabei die Hand auf seine Brust. Viel mehr als den Turm hat er im Moment nicht. Und deshalb müssen sie bleiben. Er. Und der Turm. <br> |