Juli / August 2002 - Ausgabe 39
Kreuzberger
Michael Schmidt, Schornsteinfegermeister
von Hans W. Korfmann
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Eigentlich hätte ein Rennfahrer aus ihm werden müssen. Denn damals, als man sich noch vom Tellerwäscher zum Millionär hocharbeiten konnte, und als die Formel 1 noch nicht das große Geschäft war, da war es nicht unmöglich, daß ein Mechaniker zum Fahrer und dieser Fahrer eines Tages zum Weltmeister wurde. Aber da war dieser Brief von Daimler-Benz. Rennenfahren war Schmidts Traum, seit sie damals ihre Modellautos mit Blei beschwerten und den Rinnstein hinunterrollen ließen. Seit Graf Berge von Trips, Stirling Moss und Juan Manuel Fangio mit ihren vom Regenrennen schlammverschmierten Gesichtern so siegesstrahlend in die Kameras der Fotografen lächelten. Seit der junge Michael aus Reinickendorf vom Fenster auf den Heuhaufen sprang, um schneller in den alten Triumph zu kommen, mit dem er seine ersten Runden drehte, zur Freude der Nachbarn mit abgesägtem Auspuff, so laut wie die Boliden. Nur, daß der heimische Rundkurs etwas kürzer war, weil der Hof des Vaters nur ein paar hundert Quadratmeter maß, und weil jenseits der Torausfahrt die Straßenverkehrsordnung und das wahre Leben begannen. Schmidt überlegt. Ja, einen Traum hatte er, aber ein Idol hatte er nie. »Ich wollte ja immer besser sein als die anderen. Wie hätte ich da zu jemandem aufschauen können?« Auch jetzt, wo kein Rennfahrer aus ihm geworden ist, wo er nicht zwischen den Kurven, sondern da oben zwischen Himmel und Erde seine Linie finden muß und manchmal auf schmalem Grad zwischen Aufstieg und Abgrund balanciert, schaut er nicht nach oben, sondern nach vorne. Es sei nicht lange her, da rutschte noch jedes Jahr einer von ihnen ab in den Tod, erzählt Schmidt, nüchtern und ohne viel Dramatik. Er kennt seine Strekken viele Jahre, und er ist am Ende seiner Karriere angelangt, er braucht zu niemandem mehr aufzuschauen: Er ist der Bezirksschornsteinfegermeister von Kreuzberg. Als Schmidt anfing, da rauchten die Brauereien am Tempelhofer Berg noch, da stachen aus der Silhouette der Stadt noch die langen Wahrzeichen des beginnenden Industriezeitalters in den Himmel, und da mußten die schwarzen Männer mit ihren Bürsten noch jedes Jahr einmal die langen Schlote hinauf. Heute gibt es kaum noch Fabriken in Schmidts Viertel. Auch die Leute sind anders geworden. Nicht unbedingt schlechter. Aber diese familiäre Atmosphäre nach dem Krieg, das war etwas anderes. Da hieß es immer: »Nu setz Dir erst ma’ und trink ’nen Kaffee«. Und Schmidt setzte sich aufs Sofa. Auch, wenn die Ledermontur ein bißchen rußig war. Dreckig war sie nicht. Dreck, das war was anderes. Und das wußten die in der Schleiermacher und der Gneisenau eben. Daß Schornsteinfeger reinlicher waren als andere Menschen. »Wir duschen doch dreimal am Tag. Morgens, nach der Arbeit, und dann, wenn’s ins Bett geht.« Schmidt war auch einige Monate in Schöneberg, »aber das ständige gnädige Frau war nix« für ihn. Also ist er jetzt seit »fünfunddreißig Jahren in Kreuzberg! Wo gibt’s das schon? Seit fünfunddreißig Jahren Schornsteinfeger in Kreuzberg!« Und seit fünfundzwanzig Jahren trifft er sich vor der Arbeit zum Kaffee mit drei Schildermachern in einer Kneipe in der Heimstraße. Da bequatschen sie, was das Leben eben so hergibt. Später, bei der Arbeit, da reden sie nicht viel, da achten sie auf jeden Schritt. Balancieren auf schmalen Laufstegen, 24 cm breit, die schwarzen Gestalten mit der viel zu kleinen Mütze und der kratzigen Bürste über der Schulter, die aus irgendeinem Grund die Menschen in der Stadt noch immer für einen Moment lang glücklich machen. Die schwarzen Engel, Boten aus einer Region, die dem Himmel näher ist. Das schönste ist, »morgens früh um sieben zum Beispiel hier am Mehringdamm auf dem Dach zu stehen, wenn sich die Straßen langsam mit Menschen und Autos füllen. Da zu stehen und zu sehen, wie der Tag erwacht. Man schaut da hinüber, der Fernsehturm noch da, der Potsdamer Platz schon wieder ein Stück höher, der Teufelsberg hat Schnee. Und der Mercedesstern am Ku’damm dreht sich auch noch.« Man hat einen Überblick dort oben. Sieht, daß »der Meier endlich neue Gardinen hat, daß der Stadtrat schon morgens zur Zeitung sein Bier trinkt, und daß die Alte in der Willibald schon wieder am Heulen ist. Die Zeit, sich hinzustellen und zu gucken, wie Tante Frieda die Betten macht, haben wir nicht«. Natürlich sehen das die Männer auf dem Dach, »wenn sich die Kleine aus der Heimstraße die Haare kämmt. Das wär ja ’ne Sünde, da wegzusehen.« Aber wie sich das die Mieter manchmal so romantisch vorstellen, so ist es nicht. Auf dem Dach ist man dem Himmel auch nicht viel näher. Im Winter, wenn es vereist und steil ist, wenn der Steg vermoost und glitschig ist, dann braucht der Glücksbringer auf dem Dach seine eigene Portion Glück. Und volle Konzentration. »Die Angst ist lebensnotwendig«, sagt Schulz. Das ist so wie beim Rennen. Wer zu leichtsinnig ist, fliegt raus. Manchmal bekommt einer noch die wacklige Dachrinne zu fassen. »Das ist die letzte Chance. Dann geht’s ab, und das war’s dann auch!«, sagt Schmidt. Jedes Jahr erwischte es einen der 260 Glücksbringer. Bis in die achtziger Jahre hinein. Doch allmählich verflüchtigt sich der jahrhundertealte Geruch der Kohleöfen in der Stadt, in den Kellern der Mietshäuser stehen die großen Kessel der Zentralheizungen, von den 500 Häusern in seinem Revier hat Schmidt nur noch 20 ofenbeheizte. Meistens treiben sich die Männer der windigen Höhen jetzt in Kellern herum oder kontrollieren die Thermen der Gasetagenheizungen in den Wohnungen. Schmidt hat Einblick in die Häuser seines Viertels. Auch die Bewohner kennt er gut. »Weil die Leute wissen, der erzählt nichts.« Die von der Polizei wußten das. Und nörgelten immer: »Mensch, Schmidt, du kommst doch da überall rein, du hast doch die Schlüssel, erzähl mal!« Aber Schmidt schwieg. Er wollte das Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachten, nicht mißbrauchen. »Und Schornsteinfegern vertraut man eben«, sagt Schmidt. Sogar die von der Bank trauten ihm, ließen ihn ganz allein neben dem Tresorraum. »Und der stand sperrangelweit offen. Das war schon beeindruckend, diese Stapel von Geldscheinen, und ganze Säcke voller Münzen, wie im Film!« Aber was sollte Schmidt mit so viel Geld. Schmidt ist zufrieden mit dem, was er hat. Er ist Schornsteinfeger. Und »ich möchte meinen Beruf mit niemandem mehr tauschen!«, sagt Schmidt. Vielleicht denkt Schmidt manchmal, was aus ihm hätte werden können, wenn er am 1. April 1964 zu Mercedes gegangen wäre. Stattdessen hat er sich im Hof einen alten Kadett zusammengeschraubt, er ist Tourenwagenrennen gefahren, auf der Avus, in Zolder und auf dem Hockenheimring an den Start gegangen. Doch der Kadett war nicht schnell genug. Schmidt hätte lieber einen Ford Capri gehabt. Mit dem hätte er es denen von Mercedes vielleicht zeigen können. Aber dann trat eine Frau in sein Leben, Kinder kamen zur Welt, und der Rennfahrer drehte nur noch die Runden über den Dächern der Stadt. In der Werkstatt aber stehen sie alle noch, die kleinen Silberpfeile, die Spielzeugautos, die sie mit Blei beschwerten. »Ja, das war schon mal mein Traum … – einmal in so einem Silberpfeil zu sitzen. Aber es hat nicht sollen sein.« <br> |