Kreuzberger Chronik
Juli / August 2002 - Ausgabe 39

Die Literatur

Heike Gerbig: Engel im Tiefflug


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von Heike Gerbig

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Weitere zwei Stunden später steckten wir im ersten Feierabendgedränge in der U-Bahn und schaukelten Richtung Kottbusser Tor. In seiner neuen Rolle als selbst ernannter Bodyguard hatte Frido darauf bestanden, dass wir zusammen losgingen, um bei ihm zu Hause ein paar Sachen zu holen, die er für sein Leben als Hausgespenst brauchte, und anschließend diesen geheimnisvollen Kenny zu treffen.

Während er nun lässig ein paar Kleidungsstücke in eine Reisetasche aus Plastik warf, blieb mir nichts anderes übrig, als auf der Matratzenkante herumzusitzen und mir die Bescherung zu betrachten.

Die einzigen erkennbaren Formen im ganzen Raum waren die der Matratze, auf der ich saß, eines Fernsehapparates und eines alten Kühlschranks mit abgerundeten Ecken und fehlendem Türgriff. Wirre Haufen von Kleidern, Büchern, Geschirr und sonstigem Zeug überzogen in einer dicken Schicht diese drei Gegenstände sowie sämtliche anderen verfügbaren Flächen und verliehen der Behausung den Charme einer Mülldeponie.

Frido wühlte jetzt mit etwas, das für seine Verhältnisse fast als Hektik gelten konnte, in einem Haufen herum.

»Ich dulde keine harten Drogen in meiner Wohnung«, informierte ich ihn.

Eigentlich ging ich nicht davon aus, dass er zurzeit nennenswerte Mengen davon konsumierte – zumindest nicht seit seinem Einkauf in der Kneipe am Südstern. Offenbar hatte er sich tatsächlich entschlossen, seinem Dopaminsystem eine Pause zu gönnen. Aber man kann sich in diesen Dingen bekanntlich auf nichts verlassen, deshalb hielt ich eine freundschaftliche Warnung für angebracht. Auch eine nüchterne Hauspest stellt ja eine erhebliche Beeinträchtigung des häuslichen Friedens dar. Oder, um es mit Karl Kraus zu sagen: Die Welt ist ein Gefängnis, in dem Einzelhaft vorzuziehen ist. Eine Hauspest, die mit der Nadel im Arm im Badezimmer zusammenbricht, war ganz bestimmt das allerletzte, was ich gebrauchen konnte.

Frido richtete sich auf, zog die Augenbrauen hoch und fixierte mich mit einem Ausdruck gekränkter Unschuld.
»Ich such meinen Terminkalender«, nuschelte er.
»Verzeihung, Herr Doktor. Falls du das Ding hier meinst …«

Ich zog ein zieharmonikaförmiges, zerknittertes Gebilde aus Papier und Plastik, das unter einem Kissen hervorlukte, mit spitzen Fingern ans Licht und hielt es ihm hin.
»Hhmm.«

Er kam zu mir herüber, schnappte mir das Ding aus der Hand und warf es in eine Tasche. Schließlich grub er noch einen stattlichen Haschischvorrat aus und ließ ihn nach Entnahme einer kleinen Menge für den Direktverzehr ebenfalls in der Tasche verschwinden. Ich dachte an die Mondlandschaft, die mir letzte Nacht im Spiegel erschienen war. Aber ich war nicht willens und nicht in der Stimmung, nun auch noch ein Statement zu weichen Drogen abzugeben.

»Haben mich meine erschöpften Sinne getrogen«, sagte ich stattdessen zu Frido, der sich neben mir niedergelassen hatte und einen Joint bastelte, »oder hat sich dieser unangenehme Kerl Gerlof gestern nicht nur an unserem Tiramisu, deinem Wein und seinem eigenen Sekt, sondern an diesen Stinkbomben da von dir gütlich getan?«

Frido nickte. Das sieht ihm ähnlich, dachte ich gereizt. Damit wir uns richtig verstehen: Mir liegt nicht das Geringste daran, dieses Zeug zu vertragen. Ich würde es selbst dann nicht zu mir nehmen wollen, wenn es kostenlos und mit einem Unbedenklichkeitsvermerk der EU-Gesundheitsminister versehen an jeder Straßenecke verteilt würde. Trotzdem regte es mich auf, dass ausgerechnet dieser Simpel Gerlof offensichtlich härter im Nehmen war als ich.

(Entnommen aus: Heike Gerbig, »Engel im Tiefflug«, Rotbuch – Sabine Groenewold Verlage, Hamburg, 2002, 8,90 Euro) <br>

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