Juli / August 2002 - Ausgabe 39
Herr D.
Herr D. und das Schwein von Hans W. Korfmann |
Wenn Herr D. Bonn mit Berlin verglich – was er leidenschaftlich gerne tat –, dann fiel ihm vor allem eines auf: In Bonn war alles kleiner als in Berlin. Die Straßen, die Häuser, die Seen, sogar die Hunde! Am Rhein gab es gelockte Pudel und langohrige Dackel, die an langgezogenen Gummileinen durch die Lüfte flogen, wenn Herrchen oder Frauchen den entscheidenden Knopf drückten. Schoßhündchen, die mit ihren rosafarbenen Pfötchen selbst im lockersten Waldhumus keine ordentliche Kuhle scharren konnten. Der festgetretene märkische Sand dagegen war von abgrundtiefen Fallgruben übersät, die gigantische Dobermänner, Doggen und Schäferhunde gegraben hatten. Vielleicht, überlegte Herr D., resultierte die übertriebene Zuneigung des Berliners zu Tieren und Schrebergärten aus der jahrzehntelangen Isolation von Wald und Feld. Zumindest im Westteil der Stadt war ein Ausflug ins Umland mit langen Warteschlangen verbunden gewesen, weshalb die Westberliner das Naturerlebnis gern auf die vier eingezäunten Quadratmeter zwischen S-Bahngleisen und Schiffahrtskanal reduzierten. Die Tierliebe des Berliners jedenfalls war groß, noch nie hatte Herr D. so viele und so große Tiere gesehen. Dennoch paßten sie noch in das kleinste Café. Zum Beispiel in die Primel in der Fidicinstraße mit ihren ruhigen, Zeitung lesenden Gästen, dem guten Kaffee und dem Wirt mit den gewaltigen Tätowierungen, dem finsteren Gesicht, der Frau namens Maria, dem hausgebackenen Kuchen, der leisen klassischen Musik und dem hauseigenen Dackel. Manchmal kam eine riesige Dogge zu Besuch, deren Kopf Herrn D. etwa bis zur Brust reichte, rutschte auf den Dielen entlang und versuchte, zwischen den eng zusammengerückten Tischen und Stühlen ihre Beine zusammenzufalten. Das Ganze schien ihr unangenehm zu sein, jedenfalls sah sie ihre Mitmenschen stets mit einem entschuldigenden Blick an, obwohl ihr eigentlich keiner besondere Aufmerksamkeit schenkte. Niemand würde sich in Berlin wundern, wenn ein Gast auf einer Kuh hereinkäme. Auch Ernie schenkten sie zuerst wenig Beachtung. Ernie stand den ganzen Winter über am Heizkörper und damit im Weg, denn zwischen der wärmenden Metallplatte einerseits und der Kasse und Kuchenvitrine andererseits blieben dem einwandernden Kunden ohnehin kaum 80 Zentimeter. Ernie interessierte das wenig, er wärmte sich zuerst die rechte, dann die linke Seite, und dann wieder die rechte. Bis Frauchen sagte: »Komm, Ernie, wir gehen noch ein bißchen spazieren.« Etwa ein Jahr lang nahmen die Gäste Rücksicht auf Ernie und seine alleinstehende Krankenschwester, die ihn nur deshalb zu sich genommen hatte, weil man ihr versichert hatte, er wachse nicht mehr. Nach einem Jahr in der Primel war der kleine Ernie dann tatsächlich ausgewachsen, die Stoßzähne hatten eine beachtliche Länge, sein Grunzen ließ die Tassen der Kaffeetrinker in der Luft verharren. Und eines Samstagnachmittags, Herr D. wollte gerade die Gabel in den beliebten Zupfkuchen stechen, da hörte er Maria laut aufschreien. Als er aufsah, stand sie lang gestreckt auf dem Heizkörper, klammerte sich an der Wand fest und sah entsetzt unter sich, wo sie ein ausgewachsener Keiler angrunzte. »Er hat mich gebissen!« Die Besitzerin des Schweines wollte das nicht wahrhaben. Sie beteuerte immer wieder, was für ein liebes und einsames Tier Ernie sei. Sie habe ja schon versucht, ihn auf einen Bauernhof zu geben. Aber er zeige kein Interesse für seine entfernten Artgenossen und kehre immer wieder auf seine Decke zurück. Sie könne doch dieses arme Schwein nicht einfach abschieben. Sagte die Schweinebesitzerin. Am Ende vertrug man sich wieder, Ernie, Maria und die Krankenschwester waren auch am nächsten Samstag wieder in der Primel, und Herr D. entschied, daß die Berliner tatsächlich ein außergewöhnlich tierliebes Volk waren. Hans W. Korfmann <br> |