Februar 2002 - Ausgabe 34
Die Literatur
Fischbüro (1): Christiane Roesinger: Fischbüro - Teil 1 von Christiane Roesinger |
Es war so ein lauer Spätsommerabend, daß Dimitri kurzerhand die Ikeaklappstühle und die neuesten Sperrmüllfundstücke vor die Tür stellte. Das Fischbüro war jetzt schon zwei Jahre alt und bestand nicht nur aus einer Ladenwohnung mit zwei Schaufenstern links und rechts der Eingangstür, sondern auch aus einem eingetragenen Verein, dessen Statuten besagten, daß man »Konsumenten zu Produzenten« machen wollte. Es gab Vorträge über das Paarungsverhalten beim Stichling, eine Partnervermittlung, Walzertanzkurse, Modeschauen für Herr und Hund, die ersten Houseparties im Luftschutzkeller und entsprechende Audiokleider. Jeden Samstag war geöffnet, jeden Donnerstag Krisensitzung. War kein Programm vorhanden, stellte man Robert Lembkes Heiteres Beruferaten mit allen Kandidaten von Annette von Arentin bis zum Ratefuchs Guido nach oder eröffnete mit Hilfe eines Plastik-Kinderroulettes eine illegale Spielhölle im Hinterzimmer. Am P.U.L.T (Prozessor unglaublich lustiger Tumulte) lasen frühreife Teenager aus ihren Tagebüchern, eine kaufmännische Angestellte kombinierte gerne frivole Bürolyrik mit Wasserglaskonzerten. Gar zu oft schnallte sich der Klangforscher vom Lausitzer Platz seine seltsamen Gerätschaften um, wanderte im Büro umher und erzeugte Stunden andauernde Soundcollagen. Manchmal passierte auch gar nichts, getrunken wurde immer. Das Büro war auf jeden Fall ein schöner Familienersatz und Kreuzberg das Ende der Welt. Die verschlafene Köpenicker Straße, die kaum ein Auto befuhr, endete an der Mauer. Ab und zu sorgte eine spezielle Freitodvariante für kurzzeitige Medienpräsenz und Aufregung. Es gab nämlich die Idee lebensmüder, männlicher Jungberliner, den tiefergelegten Wagen auf der breiten Geraden stark zu beschleunigen und mit hoher Geschwindigkeit gegen die bunten Männchen an der Mauer prallen zu lassen. Aber davon abgesehen verstrich die Zeit sehr langsam, und das Westberliner Publikum war für jede Unterhaltung dankbar. Abends verabschiedeten sich am Rentnerübergang der Oberbaumbrücke die Omas unter den gelangweilten Augen der gelangweilten Grenzer, verzweifelte Makler versuchten mit Slogans wie »gute Lage im Herzen Kreuzbergs« ihre seit Jahrzehnten leerstehenden Ladenwohnungen zu vermieten. Zum Ausgehen fuhr man nach Schöneberg, nach einer Nacht im Ex und Pop stolperte man sonntags betäubt über den Matschflohmarkt am Potsdamer Platz. Im Sommer gab es Ausflüge an den Flughafensee oder, die kleine Lösung, ins Prinzenbad. In Berlin zu wohnen war für alle zugezogenen Provinzler – echte Berliner gab es nur bei der Polizei, BVG oder dem Arbeitsamt – ein selbstgezimmertes Adelsprädikat. Grundsätzlich verdoppelte man die Berlinjahre, um besser dazustehen. An Weihnachten fuhr man nicht nach Karlsruhe oder nach Hause, sondern, wie man in einem Nebensatz verächtlich hinnuschelte, nach Westdeutschland. Voll die Achtziger, würde man heute sagen. An jenem Donnerstag wehte ein wehmütiger warmer Wind durch die schlappe Baumkronenallee und trug von dort den kitschigen Sommergeruch der Linden durch die ausgestorbene Straße, selten fuhr ein Auto langsam vorbei. Aus dem »Traber 90« gondelte ein Lotterpärchen schwungvoll auf die Straße, singend bewegten sie sich in gewagten Schwenks hart an der Gehwegkante entlang an der Krisensitzung vorbei und lächelten friedlich rauschversunken den jungen Leuten wohlwollend zu. Udo und Karl saßen schon am runden Tisch vor dem Büro, Protokollantin Claudia hielt den Notizblock parat. Udo kümmerte sich um den theoretischen Überbau des Fischbüros, er hatte sich durch seine Fragebögen und Begriffserfindungen wie F.U.R.Y. (futuristisches Rückwärts-Yoga), L.A.S.S.I.E (Libertäre Assoziation sämtlicher sexueller Ideen und Erfahrungen), sowie M.A.M.A. (manisches Agieren mit Allem) einen Namen gemacht. |