Februar 2002 - Ausgabe 34
Die Geschichte
Vom Kintopp zum Pantoffelkino von Werner von Westhafen |
1928, kurz vor der Premiere des Tonfilms, nannte man den Kudamm den »Broadway Berlins«. Eine ganze Reihe großer und luxuriöser Kinos schafften die hellerleuchtete Atmosphäre Manhattans. Nicht weniger als 387 Lichtspieltheater gab es in der Stadt, einige von ihnen wahre Filmpaläste, 33 hatten mehr als 1000 Sitzplätze, und 1930 registrierten die Filmtheaterkassen über 30 Millionen Zuschauer. Gerade zwanzig Jahre war es her, daß die ersten lebenden Bilder in Varietés und wandernden Jahrmärkten gezeigt wurden. 1899 eröffnete unter dem Namen »Abnormitäten- und Biograph-Theater« das erste feste Kino Berlins in der Nähe des Alexanderplatzes und leitete die Ära der sogenannten Ladenkinos ein, die sich in ehemaligen Gemüseläden oder Kneipen etablierten. Eines dieser alten Kinematographentheater hat sich bis heute erhalten und gilt als das älteste noch existierende Filmtheater Berlins. Es befand sich am Kottbusser Damm in der Nähe des Zickenplatzes. Schon im Jahr 1907 soll dort ein gewisser Alfred Topp im 1. Stock über seiner Kneipe das Kino-Topp eröffnet und damit den Grundstein zu jenem legendären Begriff gelegt haben, der die Berliner Kinos weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt gemacht hat: Das »Kintopp«. So zumindest schreibt Dieter Bertz in »Filmzeit«. Einem Zeitungsartikel aus dem Kurier vom 2. Juli 1946 jedoch ist zu entnehmen, daß ein gewisser Emil Pott 1906 »am Zickenplatz ein Panoptikum ins Leben rief. Ein Wachsfigurenkabinett, für das die Berliner jedoch wenig Interesse zeigten«, so daß der enttäuschte Inhaber eine Art Dunkelkammer einrichtete, in der er den Berlinern Stummfilme vorführte. Als eines Tages eine große Menge vor der Kasse wartete und Pott endlich erschien, rief einer aus der Menge: »Na endlich macht der Kienpott uff.« Ein anderer erwiderte: »Sach ma liba: Kintopp!« Das Reichskinoadressbuch von 1930 wiederum weist zwar 16 Kreuzberger Kinoadressen aus, jedoch kein Filmtheater am Kottbusser Damm oder am Zickenplatz. Sicher jedenfalls ist, daß sich das Berliner Kino großer Beliebtheit erfreute, und in den fernen Zeiten, als der Film noch stumm war, grölte das Volk der »Arbeiter, Dirnen, Zuhälter« um so lauter. Wenn der Film nicht genug Unterhaltung bot, sorgten Zwischenrufe aller Art für einen netten Abend. Nicht selten zum Ärger der Kinobesitzer, die nach besonders turbulenten Aufführungen halbe Sitzreihen auswechseln mußten. Womöglich, um der Unterhaltungskünstler aus dem Publikum Herr zu werden, kam die Musik hinzu, der Mann am Klavier, ein gemischtes Trio, am Ende saßen kleine Orchester vor den flimmernden Bildern. Doch auch sie vermochten das vergnügungssüchtige Berliner Volk nicht aufzuhalten. Eine Anekdote erzählt, daß die Musiker so schlecht spielten, daß bei einer Aufführung der Tragödie »Irrwege des Lebens« mit der berühmten Schauspielerin Henny Porten, die als armes, betrogenes Mädchen auf der Brücke steht und sich das Leben nehmen will, im tragischsten Moment ein Witzbold das ganze Kino zum Lachen brachte, indem er rief: »Henny, nimm den Klavierspieler mit!« Dann kam der große Krieg, und auch Potts oder Topps Kintopp mußte schließen, »eine Bombe blies dem Theater das Licht aus«. Doch schon 1946 eröffnete im notdürftig wieder aufgebauten Saal das »Zickenkino«. Einige Jahre danach nannte man es, als eine Reminiszenz an seine alte Geschichte, Das lebende Bild. Später hieß es Tali, heute heißt es Moviemento. Das Moviemento vergangener Zeiten Foto: KreuzbergMuseum, Archiv Südostexpress
Es gehört zu den erstaunlichen Geschichten dieser Stadt, mit welcher Schnelligkeit das Leben nach dem Krieg nach Berlin zurückkehrte. Innerhalb weniger Wochen waren zwischen den Ruinen die Kinos wiederentstanden, und bereits im Juli 1945 warfen allein in Kreuzberg 9 Filmtheater Licht in die rauchgeschwärzte Stadt. In der Bergmannstraße Nr. 109 waren die Marabu-Lichtspiele und in der Nr. 5 – dort, wo heute die Filiale eines Supermarkts eingezogen ist – war das Rivoli. Am heutigen Mehringdamm befanden sich die Belle Alliance Lichtspiele und das HTL, in der Blücherstraße, am Kottbusser Damm, in der Wiener Straße, der Oranienstraße und der Oppelner Straße flimmerte es auf Leinwänden. 1946 wurden vier weitere Kinos in Kreuzberg eröffnet, darunter das Hohenstauffenkino am Kottbusser Damm, eines der größten Berliner Kinos überhaupt. Kreuzbergs Nachkriegsbürgermeister Willy Kreßmann ließ es sich nicht nehmen, bei den Einweihungsveranstaltungen der Kinosäle dabeizusein. Als im Februar 1951 das Kino am Heinrichplatz eröffnet wurde, »glich die Oranienstraße einem großen Autoparkplatz. Es gab Stürme auf die Kasse, das Foyer war ein Blumenmeer«, schrieb Der Kreuzberg, und obwohl während der Wochenschau zuerst einmal das Bild ausfiel, lobte selbst der Bürgermeister, genannt Texas-Willy, die gute Qualität von Bild und Ton. Kreßmann, der Amerikafreund, schätzte das Wundermittel »Kino«, wenn es darum ging, die angeschlagene Moral der Berliner wieder aufzurichten. »Die Kreuzberger hängen an ihren Stammkinos. Sie nennen sie Schmales Handtuch, Schmalzstullentheater und Flimmerkiste, aber sie halten ihnen die Treue.« Deshalb verkauften die Kinobesitzer selbst in den schweren Jahren nach dem Krieg noch 75% ihrer Eintrittskarten. Selbst an der verödeten Friedrichstraße, dort, wo früher einmal Berlins Vergnügungsmeile gewesen und nun der Checkpoint Charlie war, eröffnete wieder ein Kino: das Tageskino City. Damit auch die Bewohner aus dem angrenzenden Ostsektor zu ihrem Vergnügen kamen, sollten hier die Filme zwischen 10 und 22 Uhr gezeigt werden. Zudem erhielten die Bewohner der Ostzone Tickets zu einem ermäßigten Preis von 25 Pfennigen, was auch in anderen Kreuzberger Kinos üblich wurde. »Wir haben hier über Nacht gebaut«, erzählte der Besitzer, und während am Tag der Eröffnung der »Stern vom Broadway« aufgeführt wurde, waren die Handwerker noch damit beschäftigt, ihr Werkzeug zusammenzuräumen. »Dieses Kino ist ein kleiner, aber erfreulicher Schritt auf dem Wege, der Friedrichstraße etwas von ihrer alten Anziehungskraft zurückzugeben«, schrieb Der Kreuzberg am 5. Januar 1951 noch voller Optimismus. Doch der Stern vom Broadway erlosch schon bald wieder, und bis die geteilte Friedrichstraße ihre alte Anziehungskraft zurückerhielt, mußten noch einmal beinahe 50 Jahre vergehen. Die Kreuzberger Filmtheater aber hatten den Krieg überlebt. In den Kinosälen war es warm, hier war die Welt noch heil und in Ordnung. Als die fünfziger Jahre begannen, besaß Kreuzberg wieder seine 16 Kinos mit insgesamt 3000 Plätzen. Heute sind es noch vier. Die Filmtheater haben den Krieg, den Einzug der Russen und der Amerikaner, sie haben die Spaltung der Stadt überlebt. Aber gegen die Invasion des Fernsehens und den Einzug der bewegten Bilder in die deutschen Wohnzimmer hatten sie keine Chance. Das Pantoffelkino trug den Sieg davon. <br> |