Februar 2002 - Ausgabe 34
Die Freizeit
Tango - Schritte zur Leidenschaft von Jürgen Jacobi |
»Und eins, zwei, drei …!« Für den Gast in der Bar sind die Worte des Tanzlehrers nicht zu vernehmen. Aber sein Blick ruht beharrlich auf den Tänzern hinter den Glastüren und er kann deutlich die Worte von den Lippen des Tangolehrers ablesen. Nachdenklich leert er sein erstes Glas und fragt sich, ob »sie« unter diesen Anfängern ist, die gerade etwas tapsig die ersten Schritte proben. Auf der Pinwand des Bebop hat er ihren Zettel gelesen, knapp und präzise formuliert: »Follower sucht leader«. Sogar Telefon und Name sind angegeben. Politisch korrekt ist der kleine Zettel in den Zeiten der Gleichberechtigung nicht, denkt sich der Gast. Aber er weiß auch: Der Tango selbst war und ist es am allerwenigsten. Tango ist Leidenschaft. Aber gibt es eine politisch korrekte Leidenschaft? Der Gast schüttelt die Horrorvision wieder ab und richtet seinen Blick auf den Tanzlehrer. Der fordert gerade zu den Schritten eines Tanzes auf, der um 1900 aus den Niederungen der Bordelle und Kaschemmen von Buenos Aires aufstieg und seinen Siegeszug um die ganze Welt antrat. Doch die Zeiten, als das Parkett der Tangotänzer noch von »compadritos« (Zuhältern), Prostituierten oder Schlachthofarbeitern bevölkert wurde, sind vorbei. »Und eins, zwei, drei…!« Der Gast hat bereits seinen zweiten Drink vor sich. Die einsetzende Musik, ein paar federnde Schritte des Tanzlehrers und das Ziel vor Augen, zumindest der Technik des Tango Herr zu werden, lassen die Kursteilnehmer jetzt die ersten Grundmuster wagen. Doch der Körper ist ein gnadenloser Verräter, zumindest bei Anfängern. Denn anstatt Stolz und Leidenschaft auszudrücken, erzählt er wortlos von langen Warteschlangen, billigen Bürostühlen, falschen Matratzen und zu vielen Stunden hinter dem Lenkrad. Noch sind die Tanzpaare nicht im erotischen Kraftfeld des Tango angekommen. Manche von ihnen werden den Pol der Leidenschaft nie erreichen. Wer die schwindelnden Höhen der Tanzlust erobern will, muß auf dem Weg den ganzen Ballast an Sittsamkeit und Selbstkontrolle über Bord werfen. Der Tango verlangt Hingabe, vielleicht sogar Unterwerfung, und seine Technik ist eine Choreographie hemmungsloser Leidenschaft. Diese Choreographie kann man einstudieren. Die Leidenschaft nicht. Sie kann Zuschauern vorgetäuscht werden und dem Tanzpartner gefallen. Aber auch beim Tango ist Leidenschaft keine bloße Frage der Technik. Der Gast steht an der Bar und nippt an seinem dritten Drink, da wird er plötzlich von den Fortgeschrittenen durch die offenen Türen in den Tanzsaal gespült. Noch bevor die Musik einsetzt, vollführen die Tänzer Schrittfolgen und Drehungen. Sie können es nicht erwarten, sie sind infiziert. Doch wovon? Fasziniert sie die Leidenschaft oder nur deren Technik? Der Gast flieht an den Rand des Saales. Hinter einer Grünpflanze sucht er Zuflucht vor der eigenen Animalität. Musik setzt ein, wehmütig und melancholisch. Wenn Musikinstrumente die Dolmetscher bestimmter Gefühle sind, dann ist das Bandoneon für verzehrende Lust und unerfülltes Verlangen zuständig. Nur ein taktvolles Klavier verhindert, daß dem Instrument in den Wellen der Seufzer die Luft ausgeht. Den Übenden wird der Atem heute nicht ausgehen, aber ein klein wenig keimt die Leidenschaft auf. |