Dez. 2002/Jan. 2003 - Ausgabe 43
Der Kommentar
Schwarze Weihnacht! von Jürgen Jacobi |
Vom Flugzeug aus ist es deutlich zu sehen: Berlin ist ein riesiger, plattgedrückter Christbaum. Sogar in Kreuzberg glitzert es. Und selbst mein Freund, einmal im Jahr Gelegenheitsanarchist, wird um Weihnachten herum zum Gefühlsdusel. Allerdings hat er einen wahrhaft historischen Kompromiß gefunden. Auf seinem Balkon hängen schwarz gefärbte Glühbirnen. Schwarz ist nämlich seine Lieblingsfarbe: Er trägt schwarz, er kauft schwarz, er hört schwarz, er fährt schwarz. Nur arbeiten, das tut er weiß. Labortechniker. Meistens erzählt er von anstehenden Revolutionen in der Dritten Welt. Hauptsächlich in Afrika. Deswegen die schwarzen Glühbirnen. Die sieht man von der Straße aus nicht. »Sonst verliere ich meinen guten Ruf in der Szene«, hat er mir zugeflüstert. Die Rede von Johannes Rau am Heiligen Abend hört er sich natürlich nicht an: »Da ärgere ich mich nur schwarz!« Wie kann man das anstehende Katastrophenjahr ohne diese warmherzige, tiefe Ansprache überstehen? Was wird der pastorale Präsident seinen Schafen sagen? Wahrscheinlich etwas von sozialer Wärme und inneren Werten. Als Ausgleich zur steigenden Rentenversicherung. Vom Zusammenrücken wird er reden. Und hat er nicht recht? Die Lücken in den Sitzreihen der Opernbesucher werden bei zukünftig zwei statt drei Opern kleiner werden. Zusammenrücken auf höchstem gesellschaftlichem Niveau also. Untere Gesellschaftsschichten sollten sich daran ein Beispiel nehmen. Auch auf dem Kreuzberger Arbeitsamt wird man noch ein bißchen enger zusammenrücken müssen. Halb so schlimm, denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Wie wahr! Schließlich sind die Deutschen Weltmeister! Zwar nicht im Fußball, aber im Lebkuchenessen! An erster Stelle stehen die Printen. 15 kg pro Kopf und Jahr! Trotz gesunkener Kaufkraft! Aber Statistiken sagen bekanntlich wenig aus. Nichts darüber, ob zwischen den vielen Aachener Printen, Nürnberger Lebkuchen und Schrumpelsdorfer Dominosteinen nicht doch gehungert wird. Schaut man sich eine andere Statistik an, nämlich das Durchschnittsgewicht der 6- bis 12-Jährigen, scheint die Lebkuchenstatistik allerdings einige Aussagekraft zu haben. Zeichnung: Nikolaos Topp
Schon gar nicht, wie mein Freund, der Gelegenheitsanarchist, darauf reagiert, wenn ihm beim Biertrinken der dunkle, kühlende Schatten fehlt. Auch er wird leiden, und – bevor er endlich umkippt – tatsächlich schwarz sehen. Aber vielleicht kann ich ihn ja doch noch überreden, mit mir gemeinsam Johannes Rau anzusehen. Schwarz! Was sonst! <br> |