Dez. 2002/Jan. 2003 - Ausgabe 43
Die Freizeit
Stricken von Hans W. Korfmann |
Das hätten sie sich nicht träumen lassen, als sie noch jung waren: Daß sie einmal genau so wie ihre Mütter und Großmütter im Sessel sitzen würden, zwei Stricknadeln in der Hand, das Wollknäuel zu Füßen, die Tasse Tee und vielleicht ein paar Kekse neben sich auf dem Tisch, während im Fernseher der Tatort läuft – und sie schauen kaum hin! Nein, während die gepeinigten Frauen der Mattscheibe hysterisch schreien und leise schluchzen, während die finsteren männlichen Gestalten Messer zücken und Pistolen aus den Handschuhfächern ihrer Kadetts und Fiats ziehen, bleibt der strickende Teil der Menschheit vollkommen ruhig und entspannt. Und selbst, wenn in den aufregendsten Momenten der Fernsehunterhaltung die Musik ausbleibt, die Gespräche verstummen, die Mienen der Schauspieler für einige Sekunden wie versteinert sind, erklingt das leise, rhythmische Klappern der friedlichen Stricknadeln. Und sie verlieren keine einzige Masche, was immer auch passiert. Vorweihnachtszeit. Selbst erfahrene Feministinnen kramen, wenn draußen die ersten Schneeflocken aus dem nächtlich finsteren Himmel rieseln, ihr Strickzeug aus dem verstaubten Handarbeitskorb, um Socken, Schals oder Decken zu stricken. Nicht gerade Männersocken, die nach dreimaligem Gebrauch riesige Löcher aufweisen. Und nicht unbedingt diese Norwegerpullover mit ihren komplizierten Hirschgeweihmustern. Ihre Männlichkeitssymbole sollen sich die Herren gefälligst selbst auf die Brust stricken. Aber so ein paar kleine Kindersocken für die Tochter einer Freundin, oder eine Zipfelmütze mit Bommel, das sind stets willkommene Weihnachtsfreuden. Auch wenn man bei den Fersen mit dem Zählen der Maschen immer wieder durcheinanderkommt und nicht selten alles wieder auftrennen muß, um noch einmal fast von vorne zu beginnen. Nie sind Frauen so geduldig wie beim Stricken! Am beliebtesten unter den Gelegenheitsstrickerinnen sind die langen Geraden der Schals, bei denen es keiner besonderen Achtsamkeit bedarf. Auch ungeübte Strickerinnen bewältigen an einem einzigen Abend nicht selten bis zu drei Meter Schal. Offenbar ohne die geringste Anstrengung. Denn die meisten Strickerinnen befinden sich während des Strickens in einer Art meditativem Zustand. Der monotone Rhythmus der Stricknadeln läßt sie schon nach wenigen Zentimetern in Trance verfallen, ihr Blick wird glasig, die Welt rückt in weite Ferne. Spricht man die Strickenden in diesem Zustand an, hören sie ihre Mitmenschen nicht mehr. Erst nach mehrmaligem Anrufen zeigen sich Anzeichen des Erkennens, ein gutmütiges Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. Wenn man dann behutsam auf sie einspricht, ist es möglich, ein freundliches, wenn auch wenig tiefsinniges Gespräch mit ihnen zu führen. Auf ein lautes oder ernstes Wort jedoch reagieren sie in aller Regel mit Ignoranz: Sie wenden sich augenblicklich wieder ihrem Schal zu. Die Männer freilich betrachten die Frauen in ihrer Glückseligkeit nicht ohne Neid und Eifersucht. Und in den Siebzigern, als Haschisch, Christus, Sex und Flowerpower eigentlich schon genügend Glück auf Erden brachten, sollen einige unersättliche Männer auch das Stricken ausprobiert haben. Da saßen sie dann mit ihren kleinen Stricklieseln auf dem Teppich und versuchten, sich in die mysteriösen weiblichen Glückszustände vorzuarbeiten. Die meisten von ihnen haben es nach kürzester Zeit wieder aufgegeben, und inzwischen sind die letzten Stricker gänzlich ausgestorben. Heute ist es wieder allein den Frauen vorbehalten, sich im Sofa zurückzulehnen und den Tatort Tatort und die Welt die Welt sein zu lassen. <br> |