April 2002 - Ausgabe 36
Das Essen
Im »Arcanoa« von Heiner Wazeneck |
Draußen auf der Straße liegt eine zusammengeschnürte Matratze. Immerhin hat sich jemand Mühe gegeben und sie transportabel gemacht. Ein paar Meter weiter die steile Straße am Tempelhofer Berg hinauf haben sie eine stählerne Spinne angekettet. Es könnte auch ein großer, umgestülpter Anker sein. Er gehörte einst zum Mobiliar des Arcanoa, zu jenen skurrilen bis genialen Einrichtungsgegenständen, die man in keinem Katalog findet und die den ersten Stock des berühmten Lokals in der Zossener Straße zu etwas Besonderem machten. Hier saß kein Mensch auf einem normalen Stuhl, hier hingen Männer und Frauen in waghalsigen Schrägen, ein wenig verrenkt, manchmal eher liegend als noch sitzend, küßten sich, rauchten, tranken – viele Geschichten haben dort oben ihren Anfang genommen. Das Arcanoa ist eine Legende. Doch die Arche Noah ist nicht untergegangen. Sie war nur kurz untergetaucht, ist am Tempelhofer Berg gestrandet und hat dort Anker geworfen. Mit ihrem ganzen verrückten Inventar, der alten Musik, dem alten Ofen und den Kisten voller Holz daneben, das den Gästen an Bord warm macht, wenn der Aprilsturm übers regennasse Pflaster am Tempelhofer Berg fegt. Und natürlich mit dem Tresen, auf dem sich ein schmaler Wasserlauf zwischen Grabsteinmarmor den Weg bahnt, bereit, kleine Papierschiffchen mit einer Botschaft an die rotlippige Frau am anderen Ende des Tresens mitzunehmen, während man lässig an seinem Caipirinha nuckelt, der »heute 4 Euro« kostet, oder seinen Met trinkt, den mittelalterlichen »Honigwein mit drei Buchstaben« für 2 Thaler und 50 Groschen. Damit das viele Volk auf der Arche keinen Hunger leidet und alle Reisenden wohlbehalten die Sintflut überstehen, hat Noah die »Volksküche« eingerichtet. An diesem Abend zum Beispiel gibt es einen großen Topf mit indischer Dahlsuppe für 1 Euro 80 Cent den Teller. Noah ist ein einfacher Mann, kein Fünf-Sterne-Koch, und schließlich ist so eine Reise durch die Sintflut auch keine Vergnügungsfahrt. Obwohl man es sich gut gehen läßt an den Tischen und am Tresen, obwohl die Stimmung gut ist neben dem bollernden Ofen, wenn draußen hinter den Fenstern der Aprilsturm tobt, ein Wasserfall den Tempelhofer Berg hinunterspringt. Eigentlich könnte es immer weiter so gehen mit dem Sturm. Man könnte hierbleiben und trinken, während es draußen regnet und stürmt, eine wahre Sintflut, tagelang … – man bräuchte nie wieder zu arbeiten … Vielleicht hat sich der Anker losgerissen, denkt der Gast, der mit dem Caipirinha in der Hand aus dem Fenster schaut. Er könnte schwören, daß sich die Arche bewegt. Wahrscheinlich hat Noah längst Kurs auf Südamerika genommen. Das Mädchen hinter dem Tresen hat jetzt schon Rastalocken, aus den Lautsprechern nur noch Reggae. Auf jeden Fall ist die Arche unterwegs, ringsum ist Wasser und Meer, aquamarin sind die Wände, Fische schwimmen umher, hängen von der Decke und an den Wänden. Auch die riesige Heuschnecke, die schon in der Zossener Straße mitflog, ist wieder an Bord. Der Gast möchte jetzt ans Oberdeck, die stählerne Treppe hinauf, die einst in den geheimnisumwobenen 1. Stock des Arcanoa in der Zossener führte. Aber eine Kette verhindert den Aufstieg. Vielleicht ist der Sturm zu groß. Deshalb schwanken auch die Beine so. »Vielleicht ist die Arche ja wieder in See gestochen!«, sagt der Gast, als draußen der Tag anbricht. Die anderen Passagiere blicken ihn stumm an. Wie Fische. »Naja, dann zahl ich eben!«, sagt er und sucht in seinen sechs Jackentaschen nach seinem Portemonnaie. In der sechsten findet er es auch. Die kleine Flamme des Abschiedslächelns der Tresenkraft mit den Rastalocken noch wärmend in seinem Rücken tritt der Mann in den Sturm hinaus, der Wind pfeift, das Wasser sprudelt zur Bergmannstraße hinab. Ein bißchen enttäuscht ist er schon, als er sieht, daß der rostige Anker noch immer da ist, und daneben ein dampfender, frischer Hundehaufen. <br> |