Kreuzberger Chronik
April 2002 - Ausgabe 36

Die Kritik

Die Wirklichkeit einer Idee


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von Michaela Prinzinger

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Wieder einmal hat sich der Martin-Gropius-Bau an ein Großprojekt gewagt. Diesmal möchte man dem geneigten Publikum die griechische Klassik näherbringen: ein Muß für Archäologie-Freaks, die endlich einmal die Statuen, Münzen und Vasen im Original und nicht nur in ihren Fachbüchern bewundern wollen.

Die Ausstellung hält sich an die Ökonomie der griechischen Welt: Norm, Maß und Kanon. Was den Festredner am Eröffnungsabend, Peter-Klaus Schuster, seines Zeichens Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, gleich zu einem raffinierten Wortspiel verleitet: Der Begriff des Kanons, durch den Bildhauer Polyklet zum ersten Mal theoretisch untermauert, führt ihn dazu, den Gedankensprung zur Canon-Kamera zu wagen, in der er den späten Widerschein des Polykletschen Genies zu erkennen vermeint. Und die Vögel in den luftigen Höhen des durch den Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann gestalteten Atriums, die über den Tyrannenmördern Harmodios und Aristogeiton schweben, führen Herrn Schuster dazu, einen Hitchcock-Film zu assoziieren.

Überhaupt ist das Bemühen auszumachen, die antike Welt den Berlinern nahezubringen, sozusagen handgreiflich begreiflich zu machen. Weg von der distanzierten Schönheit und hin zu den menschlichen Niederungen. Die Keramikerin Hella Junker durfte Amis, den Urinierbehälter für den Herrn nachbauen, der mit Henkel und Öffnung versehen während des Gelages von Sklaven gereicht wurde, sowie Skaphis, den Nachttopf für die Dame, ein Modell, das allerdings nur literarisch belegt ist. Tischlermeister U. Burczyk durfte sich an den Nachbau eines Speisesofas, einer sogenannten Kline, aus Ahorn-, Linden- und Ebenholz wagen. Auch eine Sitzbadewanne aus Terrakotta inklusive Napf mit kimolischer Seife darf da nicht fehlen.

Besonders reizvoll kommen die Symposienkränze zur Geltung, die von einer Berliner Floristin mit Mittelmeerblüten und -blättern nach Beschreibungen antiker Autoren nachgebildet und in einem speziellen Sandtrockenverfahren konserviert wurden. Sie sind im eindrucksvollen Rund um die Statue des trunkenen Lyrikers Anakreon drapiert. Die Realia sind es eben, die dem Besucher, der nicht gerade Archäologe ist, in Erinnerung bleiben: Ostraka, Stimmsteine, Lose, Wasseruhren, Schmuck.

Der Allergiker und der gelernte Linke wird sich die Abteilung V besonders merken. Im Raum zum Thema Acker- und Bergbau kitzeln den Allergiker nämlich Myriaden von Weizenähren in der Nase, wobei jede einzeln in der Kunststoffverschalung zwischen den Glaskästen angebracht ist. Der Linke gerät angesichts der Sklavenarbeit in den Silberminen von Laurion, wo in mächtigen Schlacke- und Abraumhalden geschuftet wurde, und angesichts der Lohnarbeit der Fremden, der sogenannten Metöken, ins Grübeln. Denn damit wurden erst die sozialökonomischen Voraussetzungen für die Entwicklung der klassischen Lebensweise geschaffen. Nur auf den Rücken der Sklaven konnte tonnenweise das Erz abgebaut werden, aus dem die berühmten Silbermünzen, die athenischen Eulen, geschlagen wurden. Erst die Metöken, die als Zugereiste stark ausgegrenzt wurden, ermöglichten durch ihren Beitrag zu Handel und Handwerk den Wohlstand der Athener. Von politisch rechtlosen Ehefrauen, Kindern und Hetären gar nicht zu reden …

Die Freiheit der Wenigen fußte eben auch schon damals auf der Unfreiheit der Vielen. Davon spürt der Betrachter der Statuen und Reliefs freilich wenig, der sich am Abbild des griechischen Mannes als Maß aller Dinge ergötzt.

Die griechische Klassik – Idee oder Wirklichkeit, Juni 2002, Martin-Gropius-Bau, Berlin. <br>

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