April 2002 - Ausgabe 36
Herr D.
Herr D. auf dem Amt von Hans W. Korfmann |
Herr D. stand auf der Straße und kratzte sich den kahlen Hinterkopf. Keiner wußte, wo sich das neue Rathaus befand. D. steuerte auf ein stattliches Gebäude zu, mit Türmen, langen Fensterreihen, Fahnenstangen … Das könnte einmal ein Rathaus gewesen sein. Jetzt war ein Secondhandshop in der vermeintlichen Verwaltungszentrale des sozialistischen Friedrichshain eingezogen. »Traurige Metapher«, dachte D., der morgens immer ein bißchen sentimental war und gern auf der Seite der Verlierer stand. »Das ist jetzt da hinten!«, sagte eine Passantin. Dennoch lief D. gleich zweimal am neuen Bezirksamt vorüber, denn der Eingang versteckte sich im Innern eines frisch zementierten Einkaufszentrums mit Lebensmittelfiliale, Sportgeschäft, Restaurant … Aber als er den Fahrstuhl gefunden, die zwei Stockwerke hinaufgefahren war und sich plötzlich in einem Labyrinth von Gängen wiederfand – langen Gängen mit verschlossenen Türen, Türen mit dreistelligen Nummern, Türen, hinter denen kein Laut zu vernehmen war, Türen, vor denen manchmal einige Menschen klein und traurig auf billigen Stühlen saßen und nicht wußten, was sie mit sich anfangen sollten –, da wußte D., das er richtig war. D. stand im Fahrstuhl, neben ihm Menschen mit Aktenordnern und eine Frau mit einem Kinderwagen. Das Kind schrie. Die Menschen mit den Aktenordnern warfen einen kurzen Blick auf das Kind. D. gelangte ins Zimmer von Frau Görlitz – Urkundenstelle. »Ich habe alles dabei!«, sagte D. und öffnete seine alte Aktentasche, in der er alles aufbewahrte, was der Mensch in Deutschland zum offiziellen Leben braucht: Ausweis, Geburtsurkunde, Staatsbürgerschaftsnachweis, Führerschein, Gesundheitszeugnis, Abiturzeugnis, Mietvertrag … Frau Görlitz sah ihn skeptisch an. Hätte sie noch ihre Brille gehabt, so wie früher, als es diese Kontaktlinsen noch nicht gab, da hätte sie diese jetzt zurechtgerückt, den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt und ihren Gegner genau anvisiert. Jetzt begnügte sie sich damit, sich über die Papiere zu beugen und zu sagen: »Alles? Na, wir werden ja sehen!« – D. hatte tatsächlich alles dabei, und die Beamtin wandte sich dem gewaltigen Büroschrank zu, suchte nach der richtigen Lade und brachte die schon vorgeschriebene Urkunde zum Vorschein. »Da ist sie ja. Jetzt brauche ich nur noch die Legitimation Ihrer Frau!« D. schloß die Augen. Es wurde finster. Er öffnete sie wieder, aber Frau Görlitz stand noch immer vor ihm und sah ihn fragend an. »Ich brauche die Urkunde. Heute noch!«, sagte D. »Ich brauche die Befugniserklärung Ihrer Frau!«, sagte Görlitz. – »Ich habe mir heute extra freigenommen!«, sagte D. – »Ich bin jeden Tag hier, außer mittwochs. Da haben wir geschlossen!« D. rief: »Sie können meine Frau doch anrufen! Wissen Sie, wie lange ich schon warte. Wie lange es gedauert hat, bis ich das hier überhaupt gefunden …« Frau Görlitz drehte sich um, ging zum Schrank, schob die Urkunde zurück in die Lade und gab ihr einen kleinen, lässigen, aber finalen Schubs. »Aus!«, dachte D., machte auf dem Absatz kehrt und war schon wieder draußen auf dem Gang, wo er in lauter neugierige Gesichter blickte. Doch dann drehte er abermals um und betrat freundlich lächelnd zum zweiten Mal den Raum. Seine Frau könne doch per Fax ihr Einverständnis erklären. Ein Fax sei rechtskräftig. Er wisse das, er sei ja auch Beamter. Frau Görlitz hätte sich die Brille abgenommen, wenn sie noch eine Brille gehabt hätte. Sie sah ihren plötzlichen Kollegen neugierig an. Dann sagte sie: »Das ist ja eine gute Idee! Weshalb sind wir da eigentlich nicht schon früher drauf gekommen!« D. lächelte, Frau Görlitz drückte ihm zum Abschied freundlich die Hand und rief ihm noch nach: »Machen Sie ’s gut!« <br> |