September 2001 - Ausgabe 30
Das Essen
Im »Patentamt« von Achim Fried |
Sie ist ’ne echte Berlinerin. Da an der Ecke. Sie macht nicht auf alt, so wie Leydecke und diese anderen Edelaltkneipen. Sie ist es. »Die gibt’s schon seit hundert Jahren«, sagt Charly. Er ist einer von der Sorte, der es mit den Zahlen nicht so genau nimmt. Außer, wenn es um Geld geht. Denn Charly steht hinter dem Tresen. Und Charly gehört das Patentamt. Die Kneipe neben dem anderen, dem richtigen Patentamt. Aber daß in den fünfzehn Jahren, die Charly jetzt hier an der Ecke ist, mal einer reingekommen wäre und eine Runde geschmissen hätte, weil man ihm gerade den stummen Staubsauger patentiert hätte, daran kann sich Charly nicht erinnern. »Da kommen schon mal welche vorbei, die gerade drüben waren. Aber da sah keiner so aus, als hätte er den großen Wurf gemacht.« Drei Männer sind es, die an diesem Sonntag am Tresen stehen, jeder mit einer Kugel Bier vor sich. Das Angebot im Patentamt besteht aus Jever und Schultheiss. Das gesamte Mittelfeld bleibt frei. Die drei Männer trinken Schultheiss. Schon seit ewigen Zeiten. Sie haben graue Haare und drei große, viereckige, schwarze Hornbrillen auf der Nase. Auch Charly hat eine solche Brille. Die Männer kennen sich schon lange. Sie brauchen nicht viel zu reden miteinander. Sie kennen ihre Geschichten alle schon. Sie brauchen sich auch nicht anzusehen, wenn sie einmal etwas sagen. Sie kennen dieses Gesicht schon. Billard, Kicker oder Flipper interessiert die drei auch nicht mehr besonders. Sie haben schon so einiges angefangen, und so einiges aufgegeben. Aber die Hoffnung, die haben sie noch nicht ganz aufgegeben. Deshalb blicken jetzt alle in den Fernseher, der dort im Dunkel steht und rotes und blaues Licht in die grüne Höhle des Patentamtes wirft. Wenn die Musik besonders dramatisch wird, flackern die Scheinwerfer des RTL-Studios wie auf dem Rummelplatz, wenn das Karussell seinen exorbitanten Höhepunkt erreicht. Die vier Männer starren wie gebannt auf den Bildschirm, neben ihnen im Aschenbecher verglühen die Stuyvesant. Endlich blinkt das kleine Lichtlein auf: »Richtig!«, sagt das Lichtlein. 80000 stehen schon auf dem Konto der Rentnerin. Die Herzen der vier Männer schlagen für die Rentnerin. Einer rückt nun einen Stuhl vor die flimmernde Scheibe. Einer bestellt noch schnell ein Bier. »Und was würden Sie mit 10 Millionen machen?«, fragt Günter Jauch die Kandidatin. Irgendjemand murmelt etwas. Der Wirt läßt Schultheiss in drei Kugeln laufen und guckt zum Fernseher, bis ein Glas überschäumt. Jetzt murmelt auch der Wirt etwas. Die nächste Frage lautet: »Wieviel hat 1952 die erste Bildzeitung gekostet? Zehn, dreißig oder fünfzig Pfennig?« – Daran kann sich sogar einer im Patentamt erinnern: »Zehne, det weeß ick janz jenau!« – »Dafür kannst de Dir nu och nischt koofen!«, sagt der andere. Das Grinsen Günter Jauchs sieht schadenfroh aus. Dann blendet RTL die »Werbung« ein. Jetzt kommt Bewegung unter die Männer. Sie räuspern sich, heben einen Arm, strecken das krumme Rückrat. Der Wirt schiebt drei glänzende Schultheiss über den Tresen und die Männer versuchen, von 10 Millionen zu träumen. Aber 10 Millionen sind viel. »Was soll ich denn mit 10 Millionen!«, sagt der, der Ede heißt, und geht zu den Spielautomaten. Wenn sich die Scheiben drehen, leuchten sie ein bißchen wie die 10-Millionen-Mark-Show. »Nee, ich bin hier seit fünfzehn Jahren«, sagt Charly, »und ich hab’ hier noch nie ’nen Gewinner gesehen. Mich eingeschlossen. Seit zwei Jahren versuch ich schon, die Kneipe zu verkaufen. – Nix!« Der Spielautomat gibt einige Münzen wieder zurück. Die Männer sehen kurz zu ihm rüber. Schweigend. 2 Mark 60, steht auf der Anzeige. Auf dem Bildschirm aber taucht jetzt eine Zahl mit vielen Nullen auf. Die Männer rücken schweigend die Brille zurecht, und der Wirt läßt im Billardraum schon mal den Rolladen runter. Zehn Uhr. Im Patentamt. <br> |