Oktober 2001 - Ausgabe 31
Kreuzberger
Süleyman Çoban, der Vater
von Hans W. Korfmann
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Herr Çoban ist ein kleiner Mann mit einer spitzen Nase und freundlichen Augen unter einer beigefarbenen Baskenmütze. Er trägt immer ein Jackett und vergißt nie zu grüßen. Auch dann nicht, wenn er abends einen jener verrauchten Räume betritt, in denen die Gäste vom Bier schon laut geworden sind und seine leise Stimme kaum hören. Dennoch grüßt er selten umsonst. Er hat eine Art hartnäckiger Höflichkeit, die sich durch allen Lärm, alle Unruhe schleicht. Deshalb sieht man den unscheinbaren Mann und grüßt ihn: »Hallo, Süleyman!« Und Süleyman nickt und ist zufrieden. Süleyman Çoban wiegt »vielleicht sechzig Kilo«. Er hat auch nie viel mehr gewogen. Vielleicht ist deshalb Bescheidenheit zu seiner Devise geworden. Bescheidenheit, ein passendes Jackett und gute Manieren. Was hätte es ihm genutzt, wenn er damals im »Diwan« in der Bergmannstraße versucht hätte, zurückzuschlagen. Sein Gegner kam aus einer anderen Gewichtsklasse, und jeder Schlag traf den kleinen Mann hinter der Theke zielsicher im Gesicht. »Geh doch Dein Geld da verdienen, wo Du herkommst!«, hatte man ihm zugerufen und ihm den Döner entgegengeschleudert. Wenn Herr Çoban davon erzählt, verzieht er den Mund, in einer Mischung aus Mitleid und Spott: »Was soll das?« Foto: Wolfgang Krolow
Sogar seinen Feinden gegenüber bewahrt er Höflichkeit. Er greift nicht an. Dafür versteht er, sich im richtigen Moment zu ducken. Und sich dann wieder aufzurichten, um es doch noch zu sagen. Höflich, leise, aber bestimmt, fragte er nach der Tortur auf dem Polizeirevier: »Warum macht ihr das eigentlich? Was habe ich Euch denn getan?« Sie blieben ihm die Antwort schuldig. Sie sprachen überhaupt nicht mehr mit ihm. Aber sie beobachteten ihn fortan sehr genau. Jeden seiner Schritte. Er sagt heute, er habe keine Alternative mehr gehabt. Er hätte dieses Land verlassen müssen. Das gelobte Land. »Mesopothamien«. Wenn man Herrn Çoban nach seinem Land fragt, dann nennt er diesen alten, biblischen Namen. Er weiß, das kommt besser an bei den Deutschen als »Türkei«. Aber das gelobte Land war schon damals kein gelobtes Land mehr. Also bestach Çoban 1980 einen Beamten mit 5000 türkischen Lira – »zweihundert Mark, viel Geld damals« –, um einen Paß zu bekommen, und verließ eine Heimat, in der »Freundlichkeit, Herzlichkeit und Menschlichkeit« nichts mehr bedeuteten. Nichts sei so wertvoll wie diese drei Tugenden, hatte der Vater gesagt. Sein Vater war kein Dummkopf und kein Feigling, er hatte in drei Kriegen gekämpft, er hatte ein Zimmer voller Bücher, und er sprach »Französisch, Englisch, Arabisch, Türkisch und Kurdisch«. Deshalb hat der Sohn Süleyman die Worte des Vaters immer ernst genommen. Er war noch klein, als die Heuschrecken über Argil herfielen und sich jeden Tag Hungrige vor dem Haus der Familie Çoban einfanden, der einige hundert Hektar Land und ein Haus mit 14 Zimmern besaß. »Er hat die Leute nie abgewiesen, er gab ihnen Mehl und hat sie zum Essen eingeladen. Das Haus war immer voll, wie auf dem Bezirksamt«, sagt Süleyman Çoban. Eines Tages stand er, ausgerüstet mit einem Pyjama, einem Handtuch und einer Flasche Parfum, auf dem Flughafen in Schönefeld und sagte, er wolle politisches Asyl beantragen. Man ließ ihn herein. Er fand, den Brief eines Bekannten in der Hand, den Weg in die Reichenberger Straße 55 »ohne ein einziges Mal zu fragen. Zuerst mit dem Bus, dann mit der U1, der grünen Linie, und dann zu Fuß.« Der Bekannte traute seinen Augen nicht, als Süleyman in der Tür stand. Daß dieser kleine Çoban den Weg ganz allein gefunden hatte! Noch heute strahlt der Erzähler, wenn er daran zurückdenkt. Foto: Wolfgang Krolow
So verdiente er seine erste heimliche Mark. Und so wurde aus dem Emigranten Çoban die Küchenhilfe Süleyman des »Hotel Tivoli«. Er ist der Gastronomie all die Jahre treu geblieben, als Aushilfe, als Kellner, als Koch – am Savignyplatz, in der Bergmannstraße, oder die Wochenenden bei Monika und Ali im Birkengarten. Die 80 Hektar Mesopothamiens, die er einmal geerbt hat, die Gärten, Oliven, Pistazien, Birnen und der Traktor, die gehören jetzt Ilja, dem ältesten Sohn. Das stolze Haus mit den 14 Zimmern haben sie abgerissen und einen Betonquader an die Stelle gesetzt. Die Vergangenheit rückt in immer weitere Ferne. Süleyman hebt die Schultern. »So ist das eben!« Süleyman ist in den deutschen Küchen nicht bitter geworden. Das paßt nicht zu dem Bild, das er von sich hat. Er bleibt, so lange es geht, freundlich und höflich gegen jeden. Er verbeugt sich, ein Gentlemen in bescheidener Weste und grauem Jakkett. Er bewahrt Fassung. Immer. Auch, als sie sich 35 Quadratmeter, zwei Betten, eine Matratze und einen Tisch in der Fidicinstraße teilten. Durch Acht. Der Fotograf Wolfgang Krolow bannte eines Tages die bunte Lebensgemeinschaft auf Zelluloid und berichtete einer Frau beim Bezirksamt von der Enge. Mehrmals durchkreuzten die Hausbesitzer die Pläne der drei Verschworenen. Es dauerte Monate, bis sich eine größere Wohnung fand. Doch kaum hatten die Einwanderer die Tür hinter sich geschlossen, da wollte man sie wieder hinausklagen. Erst vor Gericht erstritt sich Çoban sein Anrecht auf die Parterrewohnung in der Fidicinstraße. Auch sein Bleiberecht erkämpfte er sich vor Gericht, denn 1985 beschied man in Deutschland, daß die Türkei ein demokratisches Land sei. Der Richter sagte: »Sie müssen zurück. Aber wenn Sie sich dafür entscheiden, freiwillig zu gehen, geben wir Ihnen noch einmal drei Monate. Wenn Sie sich dagegen entscheiden, dann haben Sie noch zwei Wochen!« – Herr Çoban machte ein besorgtes Gesicht und fragte: »Warum?« – »In Istanbul haben Sie nichts mehr zu befürchten!« – »Ich gehe nicht nach Istanbul. Ich bin Kurde!« Nun legte der Richter die Stirn in Falten. Der kleine Mann war freundlich, aber hartnäckig. Man ließ einen Dolmetscher kommen, jenen gutgekleideten Cem Özdemir, der heute auf den Werbeplakaten der Grünen zu sehen ist. »Ist das ein Kurde?«, fragte der Richter. Özdemir schüttelte den Kopf. Denn Kurdistan ist groß, und Çoban sprach einen Dialekt, den Özdemir nicht kannte. Der kleine Mann aber blieb hartnäckig: »Wenn ich kein Kurde bin, dann sind Sie kein Deutscher!«, sagte er zum Richter. Aber der war ebenso hartnäckig wie der Çoban. Vielleicht sei er ja ein Kurde – aber er sei kein politisch Verfolgter. »Weshalb«, fragte nun Çoban und sah den Richter triumphierend an, »weshalb, glauben Sie, habe ich dann seit fünf Jahren weder meine Frau noch meine Kinder gesehen? Glauben Sie, ich komme freiwillig in dieses Land?« Von seinem Jüngsten, Serdar, kannte der Auswanderer nur eine Fotografie. Als er geboren wurde, war der Vater schon im Ausland. Eines Tages schrieb seine Frau, Serdar habe geträumt, der Vater sei mit einem Flugzeug auf dem Dach gelandet. Süleyman verbrachte zwei schlaflose Nächte und entschloß sich, über Griechenland und Damaskus einzureisen. Doch dann mußte er feststellen, daß seine Papiere bei einem Brandanschlag auf die Zentrale Ausländerbehörde im Wedding verbrannt waren. Die Revolutionären Zellen hatten damit die Ausländerpolitik der BRD angreifen wollen, doch Çoban bereiteten sie Sorgen: »Ich hatte schon wieder keinen Paß. Ja«, sagt Süleyman stolz, »mein Leben ist ein Roman!« Foto: Wolfgang Krolow
Herr Çoban fand das Haus seiner Familie gleich wieder, obwohl es in der Zeit seiner Abwesenheit um ein Stockwerk angewachsen war. Aber die Tür war verschlossen. Er hatte seine Heimkehr vor allen verschwiegen. Aus Angst. Und weil sein Leben wie ein Roman ist. Er kletterte über den Zaun und schlich die neue Treppe hinauf, klopfte an den neuen Türen im ersten Stock. Nichts rührte sich. Einen Moment lang dachte er daran, wieder umzukehren. Alles so liegen und schlafen zu lassen, wie es war. Dann hörte er, wie sich Schritte näherten, und dann die Stimme eines jungen Mannes: »Wer ist da?« – »Ich bin ein Freund von Süleyman«, sagte Süleyman. Es antwortete eine Frauenstimme: »Diese Stimme kenne ich. Das ist kein Freund Deines Vaters. Das ist Dein Vater!« |