November 2001 - Ausgabe 32
Strassen, Häuser, Höfe
Der Leuschnerdamm von Jürgen Jacobi |
Um die Mittagsstunde eines warmen Sommertages drängeln sich 24 Personen in Uniform in einer Baracke um einen Tisch. Die fünf Fenster des Raumes sind weit geöffnet. Auf dem Tisch liegen die Pläne des Frontverlaufes. Eine der Personen, ausgestattet mit einem absonderlichen Oberlippenbart, fährt mit dem Finger die Front entlang. Rechts von ihm schiebt ein einarmiger Mann eine Aktentasche unter den Tisch. Dann verläßt er den Raum. Um 12.50 Uhr, die Person mit dem Bart beugt sich, auf den rechten Ellenbogen gestützt, gerade über die Militärkarten, erschüttert die Baracke ein ohrenbetäubender Knall. Von den 24 Anwesenden überleben 4 Männer die Explosion nicht. Der Mann mit dem Oberlippenbart kommt mit geplatzten Trommelfellen und Schürfwunden davon. Er heißt Adolf Hitler. Es ist der 20. Juli 1944. Der Schauplatz des mißlungenen Attentates ist eine Baracke im Führerhauptquartier, die »Wolfsschanze«. Der einarmige Offizier, Oberst Claus Graf Stauffenberg, fliegt noch am gleichen Nachmittag nach Berlin zurück. Die Nachrichtenlage ist nicht eindeutig. Widersprüchliche Meldungen über Erfolg oder Mißerfolg des Attentates wechseln sich ab, weshalb die notwendigen Befehle der mitverschworenen Militärs nicht oder nur halbherzig ausgeführt werden. Um Mitternacht bricht der Aufstand zusammen. Graf Stauffenberg wird noch in derselben Nacht zusammen mit vier weiteren Offizieren standrechtlich erschossen. Im Bendlerblock, der militärischen Zentrale der Verschwörung, findet die Gestapo eine Liste von maßgeblichen Personen aus dem zivilen Umkreis des Umsturzversuches. Annähernd 200 Personen aus allen gesellschaftspolitischen Kreisen werden ihre Beteiligung mit dem Leben bezahlen. Einer von ihnen ist Wilhelm Leuschner. Wer war dieser Mann? Wilhelm Leuschner wird am 15. Juni 1890 als Sohn eines Ofensetzers in Bayreuth geboren. Er besucht die Akademie der bildenden Künste in Nürnberg und arbeitet als Holzbildhauer in einer Möbelfabrik. Er leistet Militärdienst von 1916 bis 1918 und wird 1919 Vorsitzender des Gewerkschaftskartells für Darmstadt. Er tritt der SPD bei, wird Stadtverordneter in Darmstadt, Mitglied des hessischen Landtages und 1928 zum Innenminister in Hessen berufen. Im Januar 1933 wird er in den Bundesvorstand des ADGB (Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund) gewählt. Dieser Bundesvorstand bietet am 21. März 1933 der Naziführung seine Mitarbeit im faschistischen Staat an und ruft im April 1933 die deutschen Arbeiter dazu auf, an den Feierlichkeiten der Nazis zum 1. Mai teilzunehmen. Diese hatten den internationalen »Kampftag der Arbeiterklasse« zum »Tag der nationalen Arbeit« umfunktioniert. Der Anbiederungskurs des ADGB erfährt schon am Tag darauf sein Fiasko. Die Gewerkschaftsverbände werden zerschlagen, SA und SS besetzen die Häuser, Funktionäre werden in »Schutzhaft« genommen. Die Nazis drängen Leuschner, inzwischen ein international bekannter Gewerkschaftsfunktionär, zusammen mit Robert Ley auf einer Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz die Anerkennung der faschistischen Deutschen Arbeitsfront durchzusetzen. Doch Leuschner schweigt und informiert stattdessen ausländische Gewerkschaftsführer über den Terror gegen die deutsche Arbeiterbewegung. Noch während seiner Rückreise wird er verhaftet und verbringt ein Jahr im Zuchthaus und in Konzentrationslagern. Danach zieht Leuschner nach Berlin und baut eine Aluminiumfabrik auf. Am 1.September 1939, dem Tag des Überfalles auf Polen, wird er ohne Begründung für zwei Wochen im Polizeigefängnis am Alexanderplatz festgehalten. Seine Freilassung geht auf das Drängen der Marineführung zurück, die Interesse an einem in Leuschners Fabrik entwickelten Verfahren zur Aluminiumhärtung zeigt, das bei Herstellung von Schiffsschrauben von Vorteil zu sein schien. Seine Geschäftsreisen der folgenden Jahre nutzt er dazu, Kontakte zwischen Gewerkschaftern und Widerstandsgruppen herzustellen. Er trifft auf General Ludwig Beck und Carl Goerdeler, die führenden Köpfe des militärischen und politischen Widerstandes. Beck hatte die Generalität schon 1938 gedrängt, Hitler durch einen gemeinsam angedrohten Rücktritt dazu zu bewegen, seine Kriegspläne fallen zu lassen. Als nichts geschah, nahm Beck seinen Abschied. Foto: Nikolaos Topp
Die Zeit drängt, die Ostfront weicht zurück. Die Alliierten sind gelandet. Den meisten Widerständlern ist bald klar, daß mit einem Attentat auf Hitler höchstens die völlige Vernichtung Deutschlands verhindert werden kann. Am 20.Juli 1944 nimmt Stauffenberg in der »Wolfsschanze« an der Lagebesprechung teil. Am 21. Juli erscheint der Zentrumspolitiker Jakob Kaiser bei Leuschner und fordert ihn auf, sich im Norden Berlins in einem vorbereiteten Versteck der Verhaftung zu entziehen. Leuschner lehnt ab und findet Unterschlupf in einer Laubenkolonie. Am 16. August will er in der Wohnung seiner Haushälterin frische Wäsche abholen und wird verhaftet. Eine Nachbarin hatte den entscheidenden Hinweis an die Polizei gegeben. Nach Verhören und Mißhandlungen wird Wilhelm Leuschner zusammen mit fünf weiteren Personen von Tegel in das Gefängnis Plötzensee überführt. Daß es sich bei den Mitverurteilten um Offiziere handelt, ist Zufall. Kein Zufall ist, daß ihre Familiennamen alle mit »L« oder »M« beginnen. Die Mörder gehen alphabetisch vor. An der Decke des Hinrichtungsraumes ist ein Balken angebracht. An diesem sind acht Fleischerhaken befestigt. An ihnen hängen Hanfschlingen. Darunter Schemel. Auf einem dieser Schemel steht Wilhelm Leuschner am 29. September 1944. Um 19.17 Uhr wird dieser Schemel unter Wilhelm Leuschner weggestoßen. <br> |