Kreuzberger Chronik
November 2001 - Ausgabe 32

Serdar ?oban Kreuzberger
Serdar Çoban, der Sohn




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von Hans W. Korfmann

Fotos: Wolfgang Krolow

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Es war die aufgeregte Stimme des Bruders, die ihn weckte. Mitten in der Nacht: »Steh auf, dein Vater ist da!«

Serdar glaubte ihm nicht. Er glaubte überhaupt nicht mehr daran, daß der Vater eines Tages zurückkommen würde. Dieser Vater, den er nur aus Erzählungen kannte. Von dem es nicht mehr gab als ein Foto in der Vitrine des Schranks – neben dem Großvater, der auch schon längst tot war. Das einzige schwache Lebenszeichen dieses Vaters war eine Stimme, die manchmal durchs Telefonkabel flüsterte.

»Serdar, steh auf, dein Vater ist da!« Serdar drehte sich wieder auf die andere Seite. Er wollte weiterschlafen. Sie sollten ihn in Ruhe lassen mit diesem Vater.

Serdar war jetzt sieben Jahre alt, ohne daß er diesen Vater ein einziges Mal gesehen hatte. Er war sich sicher, daß ihm die Geschwister Märchen erzählten, daß es den Vater gar nicht gab. Denn wenn es ihn gab, warum hatte er sie dann im Stich gelassen? Warum war er nicht da gewesen, als sich der Bruder das Bein brach und als ihnen das Geld für die Operation fehlte? Als sie bei den Verwandten betteln gehen mußten, damit man das Bein wieder richtete? Und als Ilja sich das Bein ein zweites Mal brach? Noch heute zieht er es nach. Warum ist dieser Vater nicht dagewesen, wenn es ihnen schlecht ging? Wenn die Mutter in der Küche saß und weinte?

»Serdar, dein Vater ist da!«
Als Serdar die Augen öffnete, sah er einen fremden Mann an seinem Bett. In der Hand hielt er eine riesige Tüte voller Süßigkeiten. Serdar schüttelte den Kopf. Mit einer Tüte Bonbons wollte dieser Mann die vergangenen acht Jahre aus der Welt schaffen. Aber Serdar war nicht bestechlich. Das war nicht sein Vater. Serdar ging zum Schrank, holte das Foto aus der Vitrine und verglich das alte Bild mit der neuen Wirklichkeit. Beide Männer hatten ein Grübchen am Kinn.

Die Mutter war jetzt aufgestanden, hatte Tee gebracht und begann, den Tisch zu decken. Um drei Uhr in der Nacht. Alle waren sie plötzlich da, die Geschwister, die Verwandten, Bekannte … Und alle freuten sich, daß er wieder da war, dieser Mann, der sie so lange im Stich gelassen hatte, und den sie alle nicht mehr verstanden hatten.

Am nächsten Morgen hat sich der Fremde die Flinte umgehängt, Serdar an der Hand und mit auf die Felder genommen. Zur Hasenjagd. Serdar war noch nie auf der Jagd gewesen. Serdar hatte auch noch nie auf einem Pferd gesessen. Jetzt lernte er reiten. Lernte die Pistazien und Oliven vom Baum schlagen, das Land kennen, das ihnen gehörte. Der Vater nahm sich Zeit, fast zwei Monate, um die verlorenen acht Jahre nachzuholen. Allmählich glaubte Serdar, daß Süleyman sein Vater war. Der erzählte, daß sie es in Zukunft besser haben sollten hier. Daß er sie alle nach Deutschland bringen würde. Bald schon. Und daß sie dort zur Schule gehen und etwas Richtiges lernen würden.

Zuerst einmal aber holte der Vater auch noch die Mutter. Sie sollte sich dieses Land ansehen und entscheiden. Serdar und seine Geschwister folgten erst ein Jahr später in die Fidicinstraße 34. Dort lud der Vater alle zum Essen ein, in die Pizzeria Primavera in der Kreuzbergstraße. Da geht Serdar noch heute manchmal mit der Freundin hin – zehn Jahre danach. Und noch heute werden die großen braunen Augen noch ein bißchen größer, wenn er an damals zurückdenkt. Der kleine Vater war bekannt im fremden Land: Wo sie auch hinkamen, er brauchte nur die Hand zu heben oder zu lächeln, und schon grüßten sie ihn. Er sprach ihre Sprache und er hatte immer Geld in der Tasche.

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Serdar hatte kein Geld in der Tasche und verstand kein Wort. Er stand mit seinem Bruder im dritten Stock am Fenster und blickte in diese Lücke zwischen den Häusern, in der Kinder Fußball spielten. Der Vater hatte es ihnen verboten, aber dann sind sie trotzdem runter gegangen. Und dann sprachen diese Kinder plötzlich seine Sprache! Sprachen türkisch! Von da an ist er jeden Tag bei ihnen unten gewesen.

Die Lehrer in der Hans-Sachs-Hauptschule sprachen kein Türkisch. Serdar wiederum machte sich nichts aus Deutsch. Auf dem Fußballplatz brauchte man kein Deutsch. In der Schule entschied er sich fürs Schweigen. Deshalb stand auf Serdars ersten Zeugnissen meistens der Vermerk: Ohne Beurteilung. »Aber in der vierten oder fünften Klasse«, erzählt Serdar, und seine Augen werden wieder ein bißchen größer, »da hatte ich dann schon Vieren und Fünfen im Zeugnis!«

Viel besser ist er nie geworden. Denn Serdar ist anders als sein Vater. Er ist das Gegenteil von Süleyman. Er kann nicht lächeln, wenn es nichts zum Lächeln gibt. Er kann nicht schweigen, wenn Unrecht geschieht. »Wir Ausländer haben es nicht leicht. Wir bekommen immer für alles die Schuld!« Deshalb schleuderte er dem Lehrer eines Tages dieses Wort entgegen, das ihm der Nachbar zugeflüstert hatte: »Arschloch!« – Eine Woche wurde er vom Unterricht »suspendiert«. Aber die Erziehungsmaßnahme half wenig. Immer wieder stand Serdar jetzt auf und begann zu schimpfen, immer häufiger verzichtete Serdar auf die Schulbank.

Bis eines Tages Herr Zander in diese großen Augen blickte. Der gab ihm am Ende sogar eine Empfehlung für die Gesamtschule mit auf den Lebensweg. Aber schon nach wenigen Wochen hatte sich der junge Kurde mit den Pädagogen zerstritten. Als Serdar nicht mehr weiter wußte, ging er zum Jugendamt. Dort wunderte man sich nicht wenig über diesen Jungen, der freiwillig den Weg zu ihnen einschlug. »Aber für wen sollte denn dieses Jugendamt gut sein, wenn nicht für Jugendliche! Das sagt doch schon der Name.«

Man gab ihm eine Reihe guter Ratschläge. Er solle sich nicht aufregen! Wenn er Ärger mit den Lehrern habe, dann solle er einfach bis zehn zählen, und irgendwann sei es dann vorbei! Serdar lacht: »Ich habe dann bis zehn gezählt und bin ganz ruhig geblieben und hab’ nichts mehr gesagt. Und da haben sie sich noch mehr aufgeregt!« Serdar ist anders als sein Vater. Er kann bis zehn zählen, aber er kann nicht freundlich lächeln dabei. Wenn Unrecht geschieht, oder wenn er Unrecht empfindet. Er kann böse aussehen, dieser Serdar, wenn Unrecht geschieht.

So blieb nur der Fußballplatz, um zu wachsen. Und die Wasserturmclique. Da fühlte er sich wohl. Manchmal waren sie fünfzig im Café des Jugendclubs, eine bunte Mischung, Polen, Afrikaner, Deutsche, Türken … »Richtig Multikulti« – Als der Club eine Reise nach Stettin unternahm, lernte er Marcel und Ronny kennen. Das sind noch heute seine besten Freunde. Deutsche. Serdar macht da keinen Unterschied. »Alle Menschen sind gleich.« Das hatte schon der Urgroßvater gesagt. Und hier im Wasserturm, da verband sie doch einiges miteinander. Hier waren die wenigsten geniale Mathematiker.

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Anders waren höchstens die aus dem Viktoriapark. Wenn die vom Chamissoplatz mit ihren Rädern im Viktoriapark unterwegs waren, dann bewegten sie sich sozusagen auf feindlichem Terrain. Und wenn sie dort herumkurvten, als gehöre der Berg ihnen, dann gab es schon mal Streit. Dann ergab ein Wort das andere und eine Faust forderte die nächste. »Das war ja früher auch nicht anders. Jede Straße hatte da ihre Bande, das waren alles Reviere, die man sich untereinander aufteilte.«

Das Dumme war nur, daß die deutschen Eltern wegen jedem »blauen Auge« gleich zur Polizei liefen. Die türkischen Familien regelten so etwas lieber untereinander. Und oft klappte das ja auch. Serdar aber stand eines Tages vor dem Jugendrichter und mußte zur Strafe zwei Tage in einem Blumenladen arbeiten. Vielleicht warf auch der größere Bruder ein trübes Licht auf Serdar. Denn der war in eine größere und kompliziertere Geschichte verwickelt gewesen. Der hatte irgendwann seinen Job verloren und sich dann zu einer Sache überreden lassen. Er ist da so reingeschliddert. Die schliddern alle in so was rein. Freiwillig macht das doch niemand. »Das ist so eine Kettenreaktion. Wenn ich auf der Schule geblieben wäre«, sagt Serdar und überlegt, ob er weitersprechen soll, »… ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre!«

Aber Serdar blieb nicht auf der Schule. Das Jugendamt war tatsächlich für Jugendliche da. Es vermittelte ihm einen Ausbildungplatz. Als er das Papier in den Händen hält, kommen ihm die Worte seiner Lehrer noch einmal in den Sinn: »Aus dir wird nie etwas! Du kriegst doch nie einen Ausbildungsplatz!« Serdar packte den Beweis in seine Hosentasche und schlug den Weg zur Schule ein. »Denen blieb der Mund offen! Zwei oder drei haben mir noch Glück gewünscht. Aber einer meinte, ich würde da eh gleich wieder rausfliegen.«

Seit drei Jahren ist er in der Ausbildung. Mit ihm einer seiner alten Freunde vom Wasserturm, Marcel. Serdar ist eine treue Seele. Drei Jahre ist es her, daß er Stephanie auf dem U-Bahnhof ansprach. Stephanie, die gerade ihre Ausbildung als Krankenschwester begonnen hatte. Serdar hatte so schöne braune Augen. Er war ein bißchen schüchtern, und er konnte nichts verheimlichen. Er war immer so, wie er war. Undiplomatisch. Ganz anders als der Vater. Jetzt sitzt Stephanie auf Süleymans Sofa, trägt das Essen auf den Tisch und spielt mit den Enkelkindern und spricht Türkisch.

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Serdar ist ein bißchen stolz, wenn er abends um fünf müde von der Arbeit kommt. Ein halbes Jahr noch, dann ist er verbriefter Gas- und Wasserinstallateur. Dann verdient er keine 800 Mark mehr, sondern das Dreifache. Er ist sich sicher, daß er Arbeit findet. Man hat ihm Hoffnung gemacht, man hat ihm gute Zeugnisse ausgestellt. Er hat sich bei der Feuerwehr erkundigt, die arbeiten in drei Schichten, schlafen übereinander. Das ist spannender, und man verdient 4 000 Mark. Serdar ist voller Optimismus.

Vielleicht kann er sogar etwas sparen. Für ein Haus. Ein Haus für seine Familie. »Ein Haus auf den Bahamas! Davon träume ich. Weil – es gab da mal einen Film. Carlitos Way – mit Al Pacino. Da kommt ein Mann aus dem Gefängnis, aber er hat irgendwo noch Geld versteckt. Er träumt davon, sich mit seiner Frau, die auf ihn gewartet hat, in ein schönes Haus zurückzuziehen und in Frieden zu leben. Aber da sind noch andere hinter seinem Geld her. Und dann, er hat schon die Tickets für die Bahamas und seine Frau wartet am Flughafen, ja – dann wird er erschossen.«

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