November 2001 - Ausgabe 32
Die Literatur
Sven Regener: Herr Lehmann von Sven Regener |
»Hast du schon gehört?« fragte er den Mann hinterm Tresen. »Was denn?« fragte Heiko, der schon Anzeichen machte, wegzunicken. »Die Mauer ist offen.« »Ach du Scheiße.« »Hör mal, Heiko, schließlich bist du selber aus dem Osten.« »Das geht mir schon seit Wochen auf die Nerven. Immer, wenn ich den Fernseher anmache: Osten, Osten, Osten. Was kann denn ich dafür, daß ich aus dem Osten komme? Was meinst du, wie das war mit den Arschlöchern? Als Schwuler im Osten, das ist der letzte Scheiß. Die Mauer ist offen, was soll das überhaupt heißen, die Mauer ist offen. Der Arsch ist offen.« Herr Lehmann guckte sich um. Der Barmann erzählte es anderen Leuten, und die Sache schien sich herumzusprechen. Es gab aber keine große Aufregung, alle machten weiter wie bisher. »Naja, wenn das stimmt … Kann doch sein«, sagte Herr Lehmann. »Und wenn schon, was soll das heißen, die Mauer ist offen.« »Was weiß ich.« Sie bestellten noch ein Bier. Als sie es halb ausgetrunken hatten, wurde Heiko plötzlich munter. »Das sollten wir uns angucken«, sagte er. »Laß uns doch zur Oberbaumbrücke gehen«, sagte Herr Lehmann. »Da geht’s doch rüber.« »Ja. Nur mal gucken.« »Aber erst das Bier austrinken«, sagte Herr Lehmann. Sie tranken das Bier aus und gingen die Skalitzer Straße hinunter zur Oberbaumbrücke. Viel war nicht los auf der Straße. Wahrscheinlich wieder nur so ein Geschwätz, dachte Herr Lehmann. Aber als sie an der Oberbaumbrücke waren, kamen tatsächlich Leute herüber. Es waren nicht viele. Vielleicht ist der erste Ansturm schon vorbei, dachte Herr Lehmann. Es kann doch nicht sein, daß die Mauer offen ist und dann kommen nur so ein paar Leute. Er stellte sich mit Heiko unter die Kreuzberger, die da standen und sich die Sache anschauten. Ganz friedlich und einer nach dem anderen kamen die Leute zu Fuß herüber und gingen dann irgendwo hin. Richtige Stimmung ist das nicht, dachte Herr Lehmann. »Die kommen da echt einfach rüber«, sagte Heiko verblüfft. »Ist das überall so?« fragte er einen Mann, der neben ihm stand. »Mußt mal zu die anderen Übergänge gehen. Das ist doch Kleinkram hier«, sagte der Mann, der auch nicht ganz nüchtern war. »Das ist doch Pipifax hier mit die Fußgänger.« Herr Lehmann beobachtete die Leute aus dem Osten. Sie wirkten etwas unsicher und sahen sich aufmerksam um. »Das sieht hier ja aus wie bei uns«, hörte er eine Frau sagen. »Das ist doch Pipifax hier mit die Fußgänger«, sagte der andere Mann wieder. »Ich geh zum Moritzplatz, da ist wenigstens was los.« »Komische Sache«, sagte Heiko. »Laß uns mal zum Moritzplatz gehen«, schlug Herr Lehmann vor. »Ach Scheiße, das ist mir jetzt zu weit.« »Ich geb ein Taxi aus.« »Jetzt findest du kein Taxi.« »Klar finde ich ein Taxi.« Sie gingen zum Schlesischen Tor. Herr Lehmann hatte Glück. Es kam sofort ein Taxi, und es hielt auf Herrn Lehmanns Winken hin auch an. »Seid ihr aus dem Osten?« fragte der Taxifahrer, als sie einstiegen. »Klar«, sagte Heiko und grinste. »Mann, ist das irre hier im Westen.« (…) »Habt ihr Westgeld?« »Na logo.« (Sven Regener, »Herr Lehmann«, Eichborn Verlag, 2001, ISBN 3-8218-0705-9) Lesen Sie dazu auch: <br> |