November 2001 - Ausgabe 32
Die Kritik
Peter Unfried und Herr Lehmann von Peter Unfried |
Ich ging über den Lausitzer Platz nach Hause. Kam aus einer Kneipe in der Wiener Straße und war müde und abgestumpft. Dann sah ich den Hund. Der Hund hatte einen großen Kopf mit einer mächtig sabbernden Schnauze. Ich dachte: Fuckin hell! Was ist denn das? Das war ja genau wie in dem Buch, das ich grade lese. »Herr Lehmann«. Von Sven Regener. Handwerklich – teilweise lausige Sätze. Trotzdem: Das Buch des Sommers. Hier bei uns in Kreuzberg 36 (das ist der nördliche Teil). Da geht nämlich der Held, Herr Lehmann, auch über den Lausitzer Platz nach Hause. Und dann trifft er den sabbernden Hund. Hm. Als ich am nächsten Abend darüber sprach, lachten all: Seltsame Koinzidenz von Literatur und Leben? Quatschi. Wenn man betrunken über den Lausitzer Platz nach Hause gehe, treffe man immer einen Hund, der sabbere. Stimmt ja. Aber … es ist … schon … seltsam. Zum Beispiel, diese Stammkneipe, in der ich grade sitze: Weltrestaurant Markthalle. Eindeutig Herrn Lehmanns Stammkneipe »Markthallenkneipe«. Recherchen ergaben, daß es sie zu der Zeit der Romanhandlung (1989) in der jetzigen Form nicht gab. Trotzdem; den »kleinen Tisch mit zwei Stühlen in der Nähe der Schwingtür zur Küche« (42) kenne ich. Gut sogar. Selbst den Typen, der in dem Roman immer an der Theke sitzt und Weizenbier trinkt, gibt es. Habe mich oft gefragt, was er wohl macht. Außer Weizenbier trinken. Im Buch steht, daß er »Kristall-Rainer« heißt und vielleicht Zivilbulle ist. Gehe mit einem ganz anderen Gefühl an ihm vorbei zum Pissen. Seit Tagen grüble ich: Wer ist »die schöne Köchin« in der Markthallenkneipe, in die sich Herr Lehmann verliebt? Es gibt da definitiv keine schöne Köchin. Es gibt natürlich gut aussehende Bedienungen. Aaah, verstehe! Literarische Verfremdung. Weil es Sommer ist (es ist Sommer!), geht die schöne Köchin schwimmen. Ins Prinzenbad. Herr Lehmann geht auch hin. Obwohl er das Prinzenbad haßt. Hm. Ich fahre da jetzt auch mal wieder hin. Obwohl ich das Prinzenbad hasse. Herr Lehmann zuckelt mit der Linie 1 langsam und öde den riesigen Schlangen vor der Kasse entgegen. Genau wie ich. Herr Lehmann setzt sich sofort in den Kioskbereich. Genau wie ich. »Und über allem lag ein leichter Chlorgeruch mit einem Hauch von Pommes.« (71) Ganz genau. Ehrlich gesagt: Ich wußte sofort, wer die »schöne Köchin« von Herrn Lehmann wirklich ist. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, daß es die dürre gut aussehende Bedienung sein könnte. Dachte immer an die – nun ja – eher Kräftige. Und an den Hermannplatz mag ich auch nicht, und an den Ku’damm fahre ich einmal im Jahr. Und nach Ostberlin nur, wenn es sein muß. Bin ich Herr Lehmann? Der furchtbare, der archetypische »Kreuzberg-Spießer« (Die Welt). Von 1989. Für den die Mauer einfach nicht gefallen ist. Der hier für immer rumhängt und von schönen Köchinnen träumt. Nein. Nein. Nein. Erstens habe ich kein Milieu, sondern relativ glasklare Lebensinhalte (32, 3, 1). Zweitens hänge ich ja auch nicht immer in denselben paar Kneipen um den Lausitzer und Spreewaldplatz. Drittens höre ich nicht Ton Steine Scherben. Sondern Rio I. Und wenn mich die Abenteuerlust packt, gehe ich schon mal zu Fuß vor in die Oranienstraße. Ich ging über den Lausitzer Platz nach Hause. Kam aus einer Kneipe in der Wiener Straße und war aufgekratzt. Hatte grade in der Zeit gelesen. Über »Herr Lehmann«: »Alles popkulturelle Berlin-Geschwätz fegt der Autor mit einem Wisch vom Tisch.« Genau. Beim Leben – geht es doch letztlich – um den Alltag. Gleich würde ich das Fenster aufmachen und den Lausi mit »Long may you run« beschallen. Der Gendarmenmarkt konnte mich mal. Mitte auch. Und Kreuzberg 61, sowieso. Schröder? Gysi? Das verderbte westdeutsche grüne Abgeordnetenpack? Das ist doch alles so eitel. Hey! Da hinten stand ja unserer. Der mit dem Fahrrad. Herr Ströbele, hallooo! <br> |