Kreuzberger Chronik
November 2001 - Ausgabe 32

Die Geschäfte

»Melek Feinbäckerei« in der Oranienstraße


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von Jürgen Jacobi

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Die Wahlen sind erst ein paar Tage her. Und ob wir nun zu den Gewinnern oder Verlierern zählen, ist angesichts der dunklen Novembertage ziemlich gleich. Wir bewegen uns unterschiedslos auf glitschigem Terrain, über uns dräut ein bleierner Himmel wie der Deckel eines Sarkophags und unsere Friedenslichtlein sind den Novemberstürmen nicht gewachsen. Beim Blick auf die politische Großwetterlage schwant uns nichts Gutes. Die saisontypischen Depressionen haben uns den Rest gegeben.

So wälzen wir uns also im Schlaf hin und her, der Zickzackkurs der Börse schlägt wie ein Blitz durch unsere Alpträume und der übliche Reflex, sich im unruhigen Halbschlaf in die Arme des Partners zu flüchten, geht auch ins Leere. Sei es, weil da keiner mehr ist, sei es, weil dieser vom ewigen Trostspenden längst ermüdet und eingeschlafen ist. In den meisten Fällen taucht dann ein Verlangen auf, daß uns bereits seit Kindertagen begleitet und bei seiner Befriedigung in aller Regel kurzfristig unser Gemüt erhellt. Unser Körper nämlich reagiert auf die energiezehrenden Amokläufe unserer Seelen mit einem alten Tip, und flüstert uns zu: Nimm kristalline Kohlehydrate! Besser bekannt unter dem Begriff »Zucker«.

Ein bißchen dieser Biodroge sollte eigentlich jeder im Hause haben. Wenn nicht, dann hilft – auch mitten in der Nacht – der Gang zur »Melek Feinbäckerei« in der Oranienstraße. Denn »Melek« ist türkisch und bedeutet nichts anderes als »Engel«. Und tatsächlich erscheint der kleine Laden manchmal wie ein rettender Engel, wenn wir etwa kurz nach Mitternacht eintreten und der Duft von warmem Brot und süßem Honig so gut tut.

Aber dann gerät der eine oder andere von uns doch ins Stocken. Denn wer im alltäglichen Verzehr der süßlichen Verführungen nicht erprobt ist, dem fällt die richtige Wahl womöglich schwer. Vor uns breitet sich eine Armee von Seelentröstern aus, deren einzelne Divisionen an Form und Farbe unterschiedlicher nicht sein könnten.

Die Vertreter dieser süßen Gattungen kringeln sich in Reih und Glied aneinander, liegen als trapezförmige Röllchen mit würdigem Abstand auf ihren riesigen Blechen, türmen sich als gleichwertige, quadratische Brüder zu Pyramiden, tragen Zuckerkristalle oder gläserne Honigschichten, kokettieren mit dem optischen Reiz aufgestreuter grüner Pistazienkrümel, und scheinen – noch ofenwarm – auf dem Blech wie zähflüssiger Sirup zu verlaufen.

Jetzt ist guter Rat teuer, aber auch Eile tut not. Die Qual der politischen Wahl haben wir ja schon hinter uns. Aber sie ist nichts im Vergleich mit der Entscheidung, für oder gegen Bulbül Yuvasi, denn wir lesen dieses Wort zwar auf der großen Plastikwand unter der Rubrik Tatli Cesitleri, wissen aber nicht, welchem Naschwerk wir diesen ach so orientalisch und geheimnisvoll klingenden Begriff zuordnen sollen. Wir erfahren nur den Kilopreis, in diesem Falle 15,- DM.

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Foto: Wolfgang Krolow
Von »Tulumba« wollen wir gar nicht wissen, was dahinter steckt. Es klingt ein bißchen dunkel und bedrohlich. Das werden wir ausprobieren, wenn der alte Lebensmut zurückgekehrt ist. Also sicher nicht vor dem Frühling. Unser Blick rutscht eine Rubrik nach links und erfaßt kurz das deutsche Wort »Ochsenauge«. Für einen Moment halten wir es für möglich, daß »Tulumba« einfach die türkische Entsprechung für »Ochsenauge« ist.

Dann gerät das Wort »Baklava« in unser mitternächtliches Bewußtsein. Wir atmen erleichtert auf. Denn als Kreuzberger mit kulturbeflissenem Anspruch und entsprechendem Geldbeutel testen wir nichtdeutsche Kulturen vornehmlich mit unseren Geschmacksnerven. Und manchmal mit den Ohren.

Trotz Seelenkrise und später Stunde nehmen wir unseren Mut zusammen und beschließen, nicht schon wieder auf das allbekannte Baklava zu deuten, sondern diesmal das Geheimnis von Sariburma zu lüften. Das Gebäck in Form einer Schlaufe ist etwa zwei Finger breit und hat die Länge einer Hand. In zwei flachen Mulden sammelt sich Honig wie in den Bächen des Paradieses. Vielleicht haben wir Glück, und Herr Bektas, einer der Geschäftsführer der Feinbäckerei, teilt uns das Wesentliche über Sariburma mit. Irgendwann werden wir verstanden haben, daß es sich am Anfang um einen zähflüssigen Teig gehandelt hat, der in siedendes Öl getaucht wurde, um zum Schluß mit Honig übergossen zu werden. Aber wir hören ihm schon gar nicht mehr richtig zu, denn jetzt ist unser Drang nach kristallinen Kohlehydraten nicht mehr zu stoppen.

Schade eigentlich, denn Herr Bektas hätte uns gerne noch erzählt, warum seine Bäckerei die ganze Nacht geöffnet ist. Der Grund dafür waren eigentlich die vermehrten Einbrüche in der Oranienstraße. Da war es nicht schlecht, wenn wenigstens einer wach blieb. Aber vermutlich wollen wir das alles gar nicht so genau wissen, schließlich sind wir gekommen, um unsere Novemberdepressionen und unsere Schlafstörungen loszuwerden.

Und wir haben noch immer nichts bestellt! Kurz überschlagen wir das Ausmaß unserer angeknacksten Psyche und kommen zu dem Schluß, daß eine Dosis von 300 g Sariburma womöglich zu schneller Heilung führen kann. Aber da wir uns der Wirkung des selbstverschriebenen Rezeptes noch nicht sicher sein können, nehmen wir sicherheitshalber noch 200 g Vanillengipfel. Man kann ja nie wissen! Bei einer noch bestehenden Beziehung, gleich welcher Art, fällt uns aber ein, daß der alleinige Verzehr bei völliger Dunkelheit in der Küche riskant ist, denn einige der Leckereien verursachen ein deutlich vernehmbares mahlendes oder knackendes Geräusch. Ob die Menge dann noch für weitere dunkle Novembernächte reicht? Schließlich stehen wir erst am Anfang des Monats!

Kurz entschlossen deuten wir auf ein rundes Gebilde, in Aussehen und Umfang einem Vogelnest nicht unähnlich, in dessen Mitte sich grüne Pistazienkrümel kuscheln. »Kadayif« hören wir Herrn Bektas jetzt hinter unserem Rücken, »garantiert wie alles andere Teegebäck mit der Hand gemacht, keine Ersatzstoffe«. Okay, dann also noch zwei davon. Wir bezahlen und eilen wie verängstigte Tiere durch die nebelverhangenen Straßen in unsere Wohnhöhlen zurück.

Doch nach dem Verzehr einiger Vanillengipfel und der Hälfte eines Sariburma stoßen wir in dessen Mitte auf zwei oder drei Walnüsse. Spätestens jetzt stellen wir fest, daß unsere Depression noch kein pathologisches Ausmaß angenommen hat und wir schon pappsatt sind. Es ist eben doch nicht alles so schlimm, wie wir angenommen haben. Zumindest solange, bis die kristallinen Kohlehydrate abgebaut sind und uns eine dunkle Novembernacht wieder ins »Melek« treibt. <br>

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