Kreuzberger Chronik
November 2001 - Ausgabe 32

Essen, Trinken, Rauchen

Tapas in der Baerwaldstraße


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von Achim Fried

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El Chico heißt »das Kind«. Vielleicht, weil der Vater seinem Sohn eines Tages einen Mietvertrag in die Hand drückte und sagte: »Hier. Mach was draus. Du sollst es besser haben als ich!«

Denn als der Vater vor einigen Jahrzehnten das sonnige Valencia verließ, um am deutschen Wirtschaftswunder mitzuarbeiten, da gab es noch viel zu tun. Drei Schichten mußte man bei Siemens schieben. Heute arbeitet Siemens am liebsten mit Zeitarbeitsvermittlern und Arbeitsplatzmaklern, den Sklavenhändlern des 21. Jahrhunderts. Das ist günstiger und weniger verantwortungsvoll. Eher verantwortungslos. Dem Spanier, der möglicherweise seinem Sohn den Mietvertrag in die Hand drückte und damit eine Kneipe in der Baerwaldstraße schenkte, hat Siemens sogar noch die Rente bezahlt. Der Sohn aber soll sich vorsichtshalber schon einmal selbstständig machen. Mit einer Tapasbar. Obwohl schon ganz Berlin voller Tapasbars ist! Guter und schlechter, falscher und echter! Gleich hier um die Ecke, in der Fichtestraße, ist schon so eine.

Aber jetzt ausgerechnet noch eine in der Baerwaldstraße zu eröffnen! Im Niemandsland zwischen 36 und 62! Wo ein Geschäft nach dem anderen zumacht? Weit und breit nur noch so ein altes, schummriges Lokal an der Ecke mit alten Leuten übriggebieben ist? Wo der Rettungswagen des Urbankrankenhauses mit 100 Stundenkilometern daherkommt, weil hier eh nie jemand auf der Straße ist? Dachte die deutsche Schwiegertochter des spanischen Vaters und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Aber es hat sich schnell herumgesprochen, daß man in der Baerwaldstraße tatsächlich etwas versteht von der spanischen Küche.

el chico
Foto: Nikolaos Topp
An den warmen Sommerabenden waren die Tische vor dem El Chico alle besetzt. Und drinnen in der Küche waren der Vater, die Mutter, die Tante und der Sohn am Hantieren, Fritieren, Garnieren und Probieren. Sie warfen die liebevoll in exakt gleichgroße Würfel geschnittenen Kartoffeln in die Pfanne, sie drapierten die winzigen Sardellen fächerartig auf dem Tellerchen, schafften aus den rosafarbenen Scheiben des achtarmigen Riesentintenfisches ein kunstvolles Mosaik oder brieten die Chorizo, daß es weithin duftete. Auf der Karte findet sich, was man in Spanien überall findet. Nicht an der touristenüberströmten Küste, sondern in den weiten Ebenen der La Mancha, den Hügeln der Rioja oder den Bergen der Pyrenäen. Es sind die einfachsten und besten Tapas Spaniens. Wer jedoch kulinarische Experimente mit spanisch klingenden und hochtrabenden Namen sucht, der gehe zu Fandango in der Fichtestraße. Wer Wert auf Dekoration und musikalische Verpackung sucht, gehe in die Fichtestraße. Wer Spanien sucht, der schlage den Weg zur Baerwaldstraße ein.

Auch bei der Auswahl der Weine beweist der Mann aus Valencia Geschmack und Bescheidenheit. Vier ausgereifte, aber längst noch nicht alte Rote aus der Rioja, einen rauchigen, doch unaufdringlichen El Coto, und einen sechsjährigen Reserva hat er im Auschank. Dazu kommen einige Weiße und ein Rosé aus Navarra, jung und duftend, als habe man die Trauben gerade erst zertreten – doch er ist frisch und klar und trinkt sich literweise …

»Wie schön es sein kann in der Baerwaldstraße!«, sagt eine Frau zu ihrer männlichen Begleitung und lächelt mit verträumten Augen. »Fast wie in Spanien!« Doch die männliche Begleitung fährt unaufhaltsam fort, die Vorteile einer privaten Rentenvorsorge zu erklären. Die Frau nippt am Glas und schließt die Augen. Sie ist längst in Spanien, und die Überlegungen von der Rentenvorsorge haben sich in monotones Meeresrauschen verwandelt. Auch der Alte aus Valencia sorgt sich schon lange nicht mehr um die Rente. <br>

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