Juni 2001 - Ausgabe 28
Kreuzberger
Kurt Sambraus, Weltenbummler
von Gabriele Bärtels
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Von den 43 Jahren, die seit seinem Volksschulabschluß vergangen sind, hat Kurt Sambraus die Hälfte auf Reisen verbracht. Per Flug, Zug, Bus, zu Fuß. Immer mit Rucksack. Er sieht nicht aus wie 57. Die Haare zwar grau, aber kurz rasiert, der Blick noch unruhig, aufmerksam. Kurt Sambraus wirkt unabhängig, manchmal sogar bedrohlich unabhängig. Kurt Sambraus, oder besser Kutte, ist 1944 geboren. Die Kinderjahre nach dem Krieg waren Straßenkämpferjahre. »Kohlen organisieren, in Schrebergärten einbrechen. Jeder hat das gemacht. Sonst kamst Du nicht an Kartoffeln.« Er wächst mit zwei Schwestern auf, der Vater ist unbekannt. »Ein Familienleben hatten wir nicht.« Mit 14 war die Schule vorbei. Da ist er erstmal durch Europa getrampt. Holland, Schweiz, Italien. »Das war so einfach damals. Geld haben wir nicht gebraucht.« Mit 15 beim Handwerksbetrieb um die Ecke eine Lehre angetreten. Maschinenschlosser. »Fotograf hätte ich werden sollen«, sinniert er, »aber woher sollte ich damals wissen, daß das überhaupt ein richtiger Beruf ist?« Als er zwanzig war, stellte er seine Mutter vor die Wahl: »Entweder Du unterschreibst, und wir trennen uns in Frieden. Oder ich gehe erst in einem Jahr. Wenn ich volljährig bin. Dann aber im Streit.« Kutte wollte auswandern. Die Mutter unterschrieb. »Wir sind trotzdem im Streit auseinandergegangen.« Nach Südafrika will er. Weil das besonders weit weg ist. Das Geld für das Flugticket hat er sich zusammengespart. Als er in Johannesburg landet, besitzt er noch genau 80 DM. An diesen Vermögensverhältnissen hat sich im Prinzip bis heute nichts geändert. Foto: Wolfgang Krolow
Zehn Jahre hat er in Afrika verbracht. In Rhodesien, Swasiland, Botswana. Aber: »Ich kenne viele herrliche Orte, doch bleiben wollte ich nie. Mein Rucksack war immer gepackt.« Das war so in Australien, Venezuela, Brasilien, Paraguay, Argentinien, Bolivien, Macao, Indien, Indonesien, Singapur, China – alles fällt ihm gar nicht mehr ein. Irgendwann war es dann einfach genug, dann wollte er wieder weiter, verließ die Frauen, grüßte die Kumpel, lud sich den Rucksack auf, und weiter ging’s. Zwischendurch kehrte er nach Deutschland zurück – seit 22 Jahren immer in dieselbe Wohnung – und jobbte so lange, bis er sich das Reisen wieder leisten konnte. 62 Arbeitsstellen hat er vorzuweisen – bis heute. Fotos. Abertausende von Fotos und Schmalspurfilmen stapeln sich in seiner Wohnung. Kutte mit Anzug und Schlips im teuersten Nachtclub Hongkongs. Kutte im T-Shirt in Manila mit einem Maschinengewehr in der Hand. Kutte in kurzen Hosen vor einem Wasserfall in Südamerika. Kutte und Frauen: Mandelaugenfrauen aus Indonesien, brasilianische Tänzerinnen … Halbnackt. Halbangezogen. Zärtlich lächelnd. Auch Kutte lächelt: »Das war eine große Liebe!« Er lächelt bei jedem dritten Bild. »Eigentlich habe ich mich nur an den Strand gelegt, die Gegend angeguckt, und da konnte ich schon sehen, welche immer wieder an mir vorbeigelaufen ist. Sie haben mich angelächelt, mir einen Zettel zugesteckt, oder sind einfach über mich gestolpert.« Mit 25, in Australien, da hat ihm eine reiche Frau einen Heiratsantrag gemacht. Da hätte er ausgesorgt gehabt. Aber Kutte ist nach Afrika zurückgegangen. Sieben Dollar in der Tasche. Er kann sich anpassen. Er trägt Jeans so selbstverständlich wie einen Anzug. In Macao lud man ihn in eine Villa über der Stadt, ein einziger Luxus mit Swimmingpool. »Und ein knallharter Geschäftsmann war das, sonst ein guter Typ, aber wirklich hart.« Sieben Jahre war Kutte »Manager« im Rotlichtmilieu. Das waren die sieben fetten Jahre, man sieht es auf den Fotos. Doch irgendwann hat er das Madenleben aufgegeben und ist zum Nomadenleben zurückgekehrt. »Ich bin nie wegen Geld irgendwo hängengeblieben. Ich kann auch ohne Geld leben. Ich habe mir auch nie Geld geliehen, wenn es mir schlecht ging. Ich hätte es ja nicht zurückgeben können.« Lieber verbrachte er einmal 11 Tage ohne einen Kanten Brot, bis ihm schwarz vor Augen wurde und er plötzlich begriff: »Da draußen auf der Straße fragt sich keiner, wo du bleibst. Wenn du nicht verhungern willst, mußt du jetzt was organisieren.« Das hat er dann auch gemacht. Hat er sich nicht manchmal einsam gefühlt? »Nie«, sagt er. »Es gibt Hunderttausende wie mich auf der Welt.« In Rio auf dem Flughafen drehte er sich um, weil er einen rufen hörte: »Das ist doch dieser Berliner Scheißkerl!« Eine Reisebekanntschaft aus Thailand. Einem anderen begegnete Kutte, der war seit 36 Jahren unterwegs, hatte schlohweißes Haar und längst den Paß verloren. Jetzt saß er fest. Kutte besitzt sechs vollgestempelte Pässe. »Einen«, sagt Kutte, »habe ich so vollgequatscht, daß er seine Familie verlassen hat. Der war Ende 30, Filialleiter einer Bank. Drei Monate, nachdem ich ihm von meinem Leben erzählt hatte, rief mich ein Freund an und erzählte, daß er seine Konten aufgelöst hat und verschwunden ist.« Kutte lacht. Unter Menschen, die ihn verstehen, fühlt er sich wohl. Deshalb erzählt er seinen Arbeitskollegen in Berlin auch kaum etwas über sich. »Die begreifen es ja doch nicht.« Daß einer in seinem Alter nicht mal zur Ruhe kommt. Die Globetrotter, denen er heute auf seinen letzten Reisen begegnet, sind 20 Jahre jünger. Sie können ihm nichts vormachen. Er hat seine Lehrjahre gehabt. »Wenn ich mit keinem Fahrzeug mehr weiterkomme, dann nehme ich meinen Rucksack und laufe, bis ich nicht mehr kann. Wenn mich einer mit einem Blick taxiert, weiß ich, der ist gefährlich. Mich haut keiner so schnell über’s Ohr.« Was sucht er da eigentlich in der Welt? »Als ich noch jung war, da waren es Frauen und Alkohol. Abenteuer. Ich habe furchtbar viel gesoffen. Aber irgendwann habe ich das Trinken eingeschränkt. Auch bei den Frauen muß man vorsichtiger sein als früher. Manchmal denke ich, daß es schade ist, wenn ich immer gleich weitergefahren bin. Jetzt habe ich für 500 DM Reiseführer gekauft. Ich bereite mich besser vor als früher. Ein paar Wochen vor Abfahrt fange ich an, alles gründlich zu studieren. Beschäftige mich mit der Religion – ich habe sogar den Koran gelesen. Wenn ich mich mit einem Muselmanen streite, muß ich doch Argumente haben!« Strandschönheiten Foto: Privatarchiv Sambraus
Als Kutte vor vier Jahren von seiner letzten Reise zurückkehrte, fand er keinen Job mehr. Die Suche ist schwierig, wenn man Mitte 50 ist. Wenn man dazu noch einen Lebenslauf hat, der beim besten Willen auf keine Seite mehr draufpaßt. Und da Geld für die nächste Reise mit den paar Mark Arbeitslosenhilfe nicht zusammenzusparen war, mußte er warten. Aber die Tatenlosigkeit zermürbte ihn, und Kutte, der schon lange nicht mehr so richtig getrunken hatte, besoff sich dumm und sinnlos und stand morgens einfach nicht mehr auf. Bis er sich entschloß, malaiisch und indonesisch zu lernen. Er hatte schon immer bedauert, daß er früher nicht konsequent genug Sprachen gelernt hatte. Englisch, ja, das schnappte er in den ersten Jahren in Südafrika einfach auf und baute es durch Lesen so aus, daß er für eine rhodesische Firma technische Bedienungsanleitungen übersetzen konnte. Jetzt, mit 54, begann er sich seine eigenen Wörterbücher in malaiisch und indonesisch zu schreiben. Manchmal achtzehn Stunden am Tag. »Ich habe ja Erfahrung«, sagt er. »Ich weiß ganz genau, welche Worte ich brauche. Und mit diesen 5000 kann ich alles ausdrücken, was ich will.« Seit zwei Jahren hat Kutte wieder Arbeit. Als Anlagenfahrer. Schichtdienst. Kutte kommt früher, als er muß, und geht später. Er macht, was man von ihm verlangt. Er kann sich nicht leisten, diesen Job zu verlieren, und weil es nur 9-Monats-Verträge gibt, geht er auch mit hohem Fieber zur Arbeit, um im nächsten Jahr wieder beschäftigt zu werden. Er klagt nicht. Er braucht das Geld. Im Dezember will er endlich wieder los. Die längste, reiselose Zeitspanne seines Lebens beenden. Er fliegt nach Indien. »Ich bin immer noch so fickerig, daß ich Stunden zu früh am Flughafen ankomme. Ich trinke Kaffee, beantworte die letzten Handy-Anrufe, sitze herum und genieße die Atmosphäre.« Der Rucksack ist jetzt schon gepackt. Karten sind besorgt, eine ungefähre Reiseroute abgesteckt, aber alles easy, wichtig ist nur, daß man weiß, wo man hin könnte – weil … – vielleicht kommt ja alles ganz anders. Die Zukunft? Kutte hat sich ausrechnen lassen, daß er 1200 Mark Rente erhalten wird. Keine guten Aussichten! Er zuckt die Achseln. »Ich habe immer Glück gehabt. Mit der Hoffnung auf Glück lebe ich auch weiter. Ruhe jedenfalls brauche ich nicht. Ich könnte noch sechzig Jahre so weiterreisen. Vielleicht gehe ich nach Australien. Oder guck mir endlich mal Deutschland an. Das kenne ich eigentlich überhaupt noch nicht.« <br> |