Juli / August 2001 - Ausgabe 29
Kreuzberger
Andrea Bielefeld, Schneiderin
von Jürgen Jacobi
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Erst kürzlich wieder mußte es sich der Berliner von einem japanischen Modemacher sagen lassen: Sein Äußeres läßt zu wünschen übrig. Ob der Ruf des schlitzohrigen Modemissionars die Träger der karierten Holzfällerhemden und Hertha-Trikots erreicht, ob sein Appell unter Basecaps dringt oder sich doch wieder nur in den Jogginghosen verfängt – wer kann das wissen. Andrea Bielefeld, Damenschneidermeisterin, ist Expertin in Sachen zweiter Haut. Wer aber ihre alltägliche Arbeit mit dem Glamour der Modedesigner verwechselt, den belehrt sie schnell und mit leicht unwirschem Blick eines Besseren. Denn der extravagante Entwurf auf dem Papier bedarf eines in die Wiege gelegten Zeichentalentes. Nach ihrer Selbsteinschätzung lag davon zu wenig in ihrer Wiege. Dieses Handicap jedoch steht der Berufsausübung einer Schneiderin nicht im Wege. Eine Schneiderin arbeitet in erster Linie am und mit dem lebendigen »Modell«. Modeschöpfer dagegen sind in aller Regel schlichtweg außerstande, die spitze Nadel ohne Gefahr für Leib und Seele in die Hand zu nehmen. Bei den Erläuterungen der Schneiderin wird neben den mehr oder weniger feinen Unterschieden zwischen Entwurf und handwerklicher Vollendung jedoch noch eines klar: Eine Schneiderin lenkt nicht nur Nadel und Zwirn meisterlich durch unterschiedlichstes Gewebe, ebenso mühelos reiht sie Wort an Wort, ohne bei ihrer langen Rede je den roten Faden zu verlieren. Friseur-, Schuster oder Schneiderladen, diese realexistierenden »chatrooms« vergangener Jahrhunderte, waren immer schon eine Nahtstelle unterschiedlichster Informationen! Und während der Blick des Zuhörers durch die Räume in der Großbeerenstraße schweift und auf die Nähmaschine trifft, stellt sich ihm die Frage, ob die rasante Sprache der Schneidermeisterin vielleicht die Spätfolge dieser ständig surrenden, sausenden Nadel ist. Foto: Wolfgang Krolow
Ein Indiz dafür könnte der Blumenstrauß im Schaufenster sein, der ganz offensichtlich nicht zur Dekoration gehört. Doch es ist die liebevolle Geste der Meisterin an eine Kundin, die sie am Nachmittag erwartet. Die Blumen und ein Strohhut scheinen die einzigen Dinge im Atelier zu sein, die nicht unmittelbar dem Arbeitsprozeß dienen. Beim Anblick der kopflosen Schneiderpuppe, die jetzt ein Probestück aus Baumwollnessel trägt, beim Betrachten der zusammengerollten, scheinbar schlafenden Stoffballen, die alle darauf warten, von der Hand der Meisterin zum Leben erweckt zu werden, – bei all diesen Eindrücken drängt sich der Begriff vom »Goldenen Handwerk« auf. Doch dieses schöne Bild will Andrea Bielefeld nicht unkorrigiert stehenlassen. Zu oft verspürt sie eine gewisse Respektlosigkeit ihrer Zunft gegenüber. Denn wer, so fragt sie sich, würde wohl zu einem Zahnarzt gehen, ohne vorher die Zähne geputzt zu haben? Ihr allerdings trägt man gedankenlos Kleidungsstücke zum Ändern ins Atelier, die noch nie eine Wäscherei gesehen haben. Schon der Gedanke an die Jacke von vergangener Woche zeichnet eine leichte Empörung in ihr Gesicht. Aber glücklicherweise ist Frau Bielefeld keine Person, die langen Grübeleien nachhängt und Gedanken tage- und nächtelang hin und her wälzt. Die älteste Frauenfrage der Welt, zu Beginn eines jeden Tages vor dem Kleiderschrank neu gestellt, ist für die Schneidermeisterin kein Problem. »Ich weiß doch, wie ich mich fühle.« Und plötzlich schlägt sie sich fast mit der flachen Hand gegen die Stirn und sagt: »Stellen Sie sich vor, meine Mutter hat jeden Abend die Kleidung für den nächsten Tag bereitgelegt, unglaublich.« Doch diese plötzliche Erinnerung einer Tochter an ihre Mutter ist ebenso schnell verflogen wie sie gekommen ist. Schließlich hat man zu tun. Sie klappt ein riesiges Buch mit Beispielen aus der Modegeschichte auf, weist mit dem Finger auf ein Scharzweißfoto, das eine Bluse mit langen Ärmeln und vielen Falten zeigt und fragt herausfordernd: »Na, sehen Sie?« Das zweifellos schöne Stück ist von Madeleine Vionnet und stammt aus dem Jahr 1924. »Sehr hübsch, doch«, nickt der Besucher und blickt sich weiter um. Offensichtliche Ignoranz aber löst auch bei Frau Bielefeld ein bißchen Unmut aus. »Das ist Satin!«, sagt sie. »Und mit nur einer einzigen Naht! Verstehen Sie jetzt?« In ihrer Stimme liegt unverhohlene Bewunderung, und vorsichtshalber verleiht der Besucher seinem Respekt jetzt durch heftiges, anerkennendes Nicken Ausdruck. Die Meisterin blättert jedoch schon weiter, springt auf und stellt sich mit aufgeklapptem Buch in kurzer Entfernung vor den Gast. Zu sehen ist eine Frau, liegend, auf weicher Unterlage gebettet und vollständig in ein schwarzes Kleid gehüllt, das die Körperformen als aufeinanderfolgende Wellen interpretiert. Davon läßt sie sich eher inspirieren als von dem ganzen »Kladderadatsch« und dem snobistischen Gehabe auf den Modeschauen, meint Frau Bielefeld. Sie zeigt zur Verdeutlichung ihres Begriffes von Inspiration ein weiteres Bild: Um gezeichnete Frauenbeine, die nur von der Fußspitze bis zu den Kniekehlen reichen, schwebt ein Tuch wie im Traum zu Boden. Foto: Wolfgang Krolow
Daß die Träger nostalgisch getrübten Blickes an »unserem Außenminister« die Turnschuhe schmerzlich vermissen, kann sie nicht verstehen. Die pragmatische Sichtweise der Schneiderin sieht auch keinen Widerspruch zwischen dem feinen Tuch eines J. Fischer und dem Kampfanzug eines J. Arafat. Letztendlich symbolisieren beide nur den Zustand einer Gesellschaft. Und Kleidung als Protest? Nein, über die spielerisch grün gefärbten Haare während der Punkbewegung ist es bei Andrea Bielefeld nie hinausgegangen. Sie käme auch nicht auf die Idee, in der Oper oder bei Hochzeiten durch provozierende Kleiderwahl ihre eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen. Eitelkeit jedenfalls war es nicht, die einst die junge Frau Bielefeld dazu bewog, Nadel, Tuch und Faden zur Hand zu nehmen. Auch eine frühkindliche Prägung durch Barbie-Puppen ist ausgeschlossen, denn solche Blondinen hat sie nie gehabt. Es gab allerdings zwei Schneiderinnen in der Verwandtschaft – aber eigentlich galt ihr Interesse doch eher der Archäologie, oder vielleicht dem Goldschmiedehandwerk. »Es war eher der reine Zufall«, als sie nämlich nach dem Abitur von Westdeutschland nach Berlin kam, durch die Straßen ging und verwundert feststellte, »hier sind ja unglaublich viele Schneidereien.« Die Schneiderin versteht sich zwar nicht als Mensch voreiliger Entschlüsse, aber wenn sie sich einmal zu etwas entschlossen hat, dann »ziehe ich die Sache so schnell wie möglich durch«. Also ging sie »Klinken putzen«, fand tatsächlich noch eine Stelle als Schneiderlehrling und absolvierte die Gesellenprüfung. Schon nach vier Jahren meldete sie sich zur Meisterprüfung. Jetzt hat sie ihren eigenen Schneiderladen. »Immerhin schon 8 Jahre. Tja, so schnell geht’s« – Frau Bielefeld drückt jetzt die Zufriedenheit eines Menschen aus, der sich keinesfalls zurücklehnen will, aber immerhin beim Rückblick schon ein bißchen Zufriedenheit empfindet. Eine kleine Atempause darf schon einmal sein, und für einen Moment scheint die Schneiderpuppe im Schaufenster den stummen Dialog mit den schlafenden Stoffballen aufzunehmen. Und plötzlich erinnert sich der Gast im Schneiderladen an die vielen Schneider in den deutschen Märchen: an »Des Kaisers neue Kleider«, an »Schneeweißchen und Rosenrot« oder auch »Das tapfere Schneiderlein«, und an die vielen blutenden Fingerkuppen. Stechen sich auch die Meister der Nadeln noch in die Finger? »Öfter als Sie denken«, lacht Frau Bielefeld. Denn schließlich gibt es Kunden, die darauf bestehen, daß die Knopflöcher eigens mit der Hand genäht werden. Die Frage, ob es denn überhaupt Sinn mache, ein Knopfloch oder einen Reißverschluß mit der Hand zu nähen, entlockt der Meisterin nur noch ein mitleidiges Lächeln. »Das sieht man doch!« Was man nicht mehr so genau sieht, ist die Qualität der Stoffe. In den wenigsten Fällen, selbst mit mikroskopisch genauen Augen, läßt es sich heute noch eindeutig sagen: Naturfaser oder Kunststoff. Aber es gibt einen alten, billigen Trick, der stammt noch aus den ersten Tagen der künstlichen Stoffe. Die Schneidermeisterin hebt ein paar Stoffreste vom Boden auf und setzt sie in Brand. Weiße Aschewölkchen steigen auf und schweben dann sachte auf den Boden der Schneiderei. <br> |