Juli / August 2001 - Ausgabe 29
Die Begegnung
Ein ganz gewöhnliches Mietshaus von Gabriele Bärtels |
Neue Mieter sind eingezogen. Daß sie Jänicke heißen, haben wir vom Türschild abgelesen, denn sie stellten sich nicht vor. Meine Nachbarin Thea hat sie zuerst gesehen – sie kamen ihr auf der Straße entgegen: Zwei Frauen, eine junge und eine ältere, beide trugen Sonnenbrillen und Kopftücher und gingen dicht an der Hauswand entlang. Thea erreichte die Tür und hielt sie den beiden höflich auf. Doch sie schritten wort- und blicklos an ihr und am Haus vorbei. Thea mußte noch schnell in den Keller, und als sie sich endlich auf den Weg in den 3. Stock machte, stieß sie fast mit den Frauen zusammen. Die junge stellte sich wie auf Befehl mit dem Gesicht vor die Briefkästen und die ältere hob einen Regenschirm, um einen Angriff abzuwehren. Sie standen bewegungslos und abwartend, während Thea langsam die Treppe hochstieg. Seitdem der Hausmeister bei mir klingelte, wissen wir, daß es sich um Mutter und Tochter handelt. Alle Vorhänge blieben Tag und Nacht zugezogen. Nur sehr selten nahmen sie Kontakt auf: Die alte Dame aus dem Erdgeschoß traf die beiden im Keller und grüßte mechanisch. Auf einmal räusperte die ältere Frau sich und sagte hoheitsvoll und in eine ganz andere Richtung: »Ihren Gruß können Sie sich sonstwohin stecken.« Und die türkische Familie aus dem Erdgeschoß hat einen Anruf bekommen. Obwohl des Deutschen sehr gut mächtig, haben sie auch nach einer halben Stunde höflichen Zuhörens nichts verstanden und leise aufgelegt. Thea, die direkt über den neuen Mietern wohnt, hörte nachts Schreie. Sie erzählte es der alten Dame aus dem Erdgeschoß schreckensbleich. Ich beschloß, mich im Namen der Hausgemeinschaft vorzustellen und klingelte an der Tür. Es scharrte und ein dürres »Ja« klang durch das Holz. Drei Schlösser wurden geöffnet und eine etwa 45jährige Frau erschien. Hartes, kantiges Gesicht, langes, ungepflegtes Haar, der Mittelscheitel so ausgedünnt, daß ein breiter Streifen weißer Kopfhaut zu sehen war. Hinter ihr war es dunkel, doch sie trug eine Sonnenbrille. Ich sagte meinen Namen und daß wir uns auf neue Nachbarn freuten, daß es hier nie Probleme mit der Treppenhausreinigung gegeben habe – sie sagte nichts und zuckte mit dem Kopf. Über ihre Schulter sah ich ihre etwa 25jährige Tochter mit puppenweißem Gesicht regungslos an der Wand stehen. »Wir haben sofort nach unserem Einzug das Treppenhaus gewischt«, unterbrach die ältere Frau plötzlich schnell. »Das hat der Herr gegenüber gesehen. Und er soll ja nichts sagen!« Was für Augen verbargen sich hinter dieser Brille? Sie nahm sie kurz ab. Ihr Kopf ruckte und sie sagte in einem falschen, höflichen Ton: »Ich habe eine Augenkrankheit, extreme Lichtempfindlichkeit, selbstverständlich wird es nicht wieder vorkommen. Entschuldigen Sie.« Ihre Augen waren ein kleines, kaltes Paar Gucklöcher. Ich sah sie nur einen Sekundenbruchteil. Von diesem Tag an war das Schweigen in der Wohnung total. Es gab keine Schreie mehr in der Nacht, keine Musik drang durch die Tür, es gab keine Besucher, die Vorhänge blieben geschlossen, selbst der Briefkasten schien immer leer. Manchmal sah man sie vom Einkaufen kommen, die Tochter stets hinter der Mutter, gebeugt, mit Riesensonnenbrillen und langen Mänteln. Sie waren wie Rehe, die auf eine Lichtung traten – das Knacken eines Astes – und schon verschwunden. Eines Tages klingelte es an meiner Wohnungstür. Davor standen sie – die Tochter auf den Stufen, die Mutter auf dem Treppenabsatz. Sie sagte kopfnickend: »Entschuldigen Sie die späte Störung. Entschuldigen Sie die Brille, ich habe eine Augenkrankheit.« Die Tochter echote: »Ja, meine Mutter ist sehr lichtempfindlich.« Sie sprach ohne Seele. Ihre Mutter setzte zu einem langen, gewundenen Monolog an, voller Wiederholungen und Kopfnicken, »entschuldigen Sie bitte, aber nur, wenn wir Sie nicht stören, es gibt nur ein winziges Problem, ein ganz, ganz kleines.« Sie baten mich, zu ihnen herunterzukommen. Ich nickte. »Sie kommt«, sagte die Mutter zur Tochter, ohne sich nach ihr umzudrehen. Ich betrat eine vollkommen dunkle Wohnung. Einzig im Wohnzimmer brannte ein schwaches Rotlicht. Ich konnte das Sofa kaum erkennen, auf dem die ältere Frau mir einen Platz anbot. Neben mir hockten etwa fünfzig verschiedene Stofftiere, deren glänzende Augen alle in die gleiche Richtung starrten. »Haben Sie Platz genug? Verzeihen Sie die Unordnung. Meine Tochter wird die Tiere wegräumen.« Die Tiere waren sehr ordentlich aufgereiht, und die Tochter rührte sich nicht von ihrem Platz in der Tür. Sie sagte mechanisch: »Die hat mein Mann bei Aldi in München für mich gekauft.« »Du redest zu viel«, sagte die Mutter. Sie sprachen in einem deutlichen, sorgfältigen Wort-für-Wort-Deutsch. Auf einer Anrichte stand eine Vielzahl Fotos in allen Größen, dicht hintereinander aufgestellt. Sie zeigten Menschen, einander umarmend, gelöst lachend, mit Kindern. »Das sind alles Tote«, sagte die Mutter. »Ich werde sie wegräumen.« Aber sie blieb auf der Kante des Sessels sitzen, rauchte umständlich und hektisch eine Zigarette und blieb in dieser Entschuldigungsschleife hängen, bis ich in die Hände klatschte. Ihre Tochter zuckte nicht. »Worum geht es?« Zeichnung: Nikolaos Topp
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß der dünne, blasse, junge Mann und seine Gäste solche Gesprächsthemen hatten, und schlug ihr vor, es entweder zu vergessen oder ihn darauf anzusprechen. Sie fuhr zurück, als hätte ich sie gestochen. »Nein, nein. Wir wollen gar nicht mit ihm reden. Er soll uns nur sagen, was er gegen uns hat. Dem Gegner ins Gesicht sehen, das kann ich. Dann gibt es einen Kampf und das ist fair und dann werden wir sehen, wer gewinnt.« Sie zischte die Sätze aus dem Mund und versprühte dabei Speicheltropfen: »Was können wir dafür, daß wir keine Männer haben?« Ich stand auf. Die Tochter bewegte sich und sagte mit toter Stimme zu ihrer Mutter: »Entschuldigst du mich bitte bei unserer Nachbarin. Sag ihr, daß wir so nicht leben können. Sag ihr das.« Dann drehte sie sich abgezirkelt um, ging in den Flur, blieb dort mit dem Gesicht vor der Wand stehen und murmelte: »Ich habe ahnungsvolle Mutmaßungen.« Auf meinem Weg aus der Wohnung begleitete mich ein Strom von Entschuldigungen, die die Tochter jeweils wie ein Sprachcomputer wiederholte. Nun wohnen die beiden schon fünf Jahre hier, und meistens kommt uns ihre Wohnungstür vor, als wäre da nur Beton. Wir nennen sie »die Vampire«, aber wir meinen es nicht so. Auf unsere Treppenhausgrüße haben sie nie wieder geantwortet, doch manchmal steht Thea auf ihrem Balkon und hört die Vampire unten keifen: »Die ist schon wieder so früh zu Hause. Die fickt nur, die Nutte.« Dann wissen wir, daß sie noch leben. |