Dez. 2001/Jan. 2002 - Ausgabe 33
Die Literatur
Anja Tuckermann: Suche Oma! von Anja Tuckermann |
Steffi zog ihre Inlineskater an und rollte auf der gegenüberliegenden Straßenseite in Richtung Markthalle, immer nach Nora spähend, die sie jetzt auf keinen Fall treffen wollte. Bei der Markthalle fuhr sie wieder auf die andere Seite, an der Bank mit den Säufern vorbei und durch den Haupteingang hinein in die Halle. Dann fuhr sie die Reihen der Geschäfte ab. Die älteren Verkäuferinnen kamen nicht in Frage. Die mußten den ganzen Tag arbeiten, die hatten keine Zeit. Aber bei den älteren Verkäuferinnen standen auch die älteren Kunden. Am Hundefutterstand hielt Steffi die Luft an, den Geruch fand sie eklig, die Mischung aus Innereien und Sachen zum Kauen und Zerbeißen: Schuhe, Mäuse, Knochen … Stände mit Süßigkeiten, Geflügel, Schuhen, Fischen, Obst, Gemüse, Strümpfen. Da stand eine. Und suchte in den »5 Paar für 10 Mark«-Körben nach Strümpfen in der richtigen Größe. Die gefiel Steffi. Langsam rollte sie vorbei. Die Frau schaute auf. Ihre Augen glänzten, sie hatte keine nach unten gezogenen Mundwinkel, sie war nicht mit Goldschmuck behängt. Sie trug eine Pinocchio-Uhr in gelb. Pinocchio auf dem Zifferblatt, seine Arme waren die Zeiger. Die Frau sollte ich fragen. »He, Mädchen, – kannst Du mir helfen?« Steffi wendete sofort, fast rollte sie noch einmal um sich selbst. »Du bist aber geschickt.« Steffi brachte auf einmal kein Wort mehr raus. »Kannst du mir sagen, welche Socken dir am besten gefallen? Ich kann mich nicht entscheiden.« Eine Sorte war einfarbig. Eine Sorte war schwarz und weiß. Eine Sorte war schwarz-rot, schwarz-grün, schwarz-blau gestreift. Auf die zeigte Steffi. Ob sie meine Oma werden würde? Ihr wurde heiß. »Die Geringelten. Ja, du hast Recht. Ich habe mich nicht getraut, die zu nehmen, weil sie so auffallen. Aber sie sind am schönsten. Die kaufe ich. Danke.« Sie schenkte Steffi eine Packung Kaugummis. Steffi bedankte sich. Jetzt fragen. Wahrscheinlich hatte sie schon ein Enkelkind. Steffi sagte … nichts als Tschüss, fuhr in die Mitte der Halle und lehnte sich an die Imbißtheke. Die Frau kaufte die Ringelsöckchen, ging an Steffi vorbei, lächelte sie an, zeigte auf ihre Tüte, verließ die Halle. Steffi kühlte ab, die Aufregung schlug um in Ärger auf sich selbst, daß sie so wenig Mut hatte. So würde sie immer allein bleiben. So würde sie niemals eine Oma finden. Die einzige alte Frau mit einer Pinocchiouhr am Handgelenk, die sogar von selbst ein Gespräch angefangen hatte – sogar die hatte Steffi nicht gefragt und weggehen lassen. Wütend fuhr Steffi aus der Halle, fast hätte sie den Mann mit dem dicken Bauch und den Glubschaugen, der immer nach Groschen fragte, umgefahren. Dann, dachte Steffi, wenn ich mich nicht traue, dann bin ich eben noch zu klein dazu, dann kann ich so was nicht allein, dann spiele ich lieber mit Nora. Die war immer draußen, weil ihre arbeitslose Mutter zu Hause dauernd putzte und sie rausschickte, damit sie nichts schmutzig machte. Steffi fuhr in ihrer Höchstgeschwindigkeit den Gehweg entlang, so schnell, daß zwischen Eisdiele und Gyrosbude ein Mann zur Seite sprang, sein Hund bellte, aber Steffi war schon längst vorbei. Der Fahrtwind wehte ihr um die Ohren, ein Paar schimpfte ihr hinterher. Am Obstladen kriegte Steffi die Kurve zur Haustür nicht, fiel Ayan vor die Füße und weinte. Entnommen aus: Anja Tuckermann, »Suche Oma!«, Ravensburger Buchverlag. <br> |