April 2002 - Ausgabe 36
Strassen, Häuser, Höfe
Die Köpenicker Straße von Jürgen Jacobi |
Jede Stadt kennt vornehme und weniger vornehme Adressen. Gesellschaftlicher Aufstieg manifestiert sich in der Angabe einer noblen Wohnadresse. Der Abstieg auf ähnliche Weise. In der Köpenicker Straße zu wohnen, ist heute eher nichtssagend. Das aber war nicht immer so, denn mit ihren Fabriken und Hinterhöfen, Militäranstalten und Villen mit blühenden Gärten zur Spree spiegelt die Straße sowohl die urbane Entwicklung als auch den Querschnitt durch alle sozialen Schichten. Und, wie so oft in der Geschichte Berlins, haben auch im Fall der Köpenicker Straße die Einwanderer eine wichtige Rolle gespielt. Die ersten von ihnen waren französische Religionsflüchtlinge. Sie siedelten sich um 1700 in der Umgebung der Köpenicker Straße an. Ihnen folgten im Verlauf der Industrialisierung unzählige Arbeitsemigranten aus den östlichen und südöstlichen Provinzen. Viele von ihnen haben Arbeit in den Kattunfabriken gefunden, die später auch Militäruniformen im leuchtendem Preußisch-Blau herstellten. Karl Liebknecht dürfte in diesem vermutlich ungeliebten Outfit die Straße entlanggelaufen sein. Er absolvierte seinen Militärdienst in einer Rekrutenkaserne in der Köpenicker. Zwar ist nicht anzunehmen, daß er aus militärischer Gewohnheit heraus im Stechschritt durch die Straße geeilt ist, doch der eine oder andere Gang wird ihm bildhaft vor Augen geführt haben, wofür er seinen politischen Weg angetreten hat. Aus einer Wohnungsuntersuchung im Jahr 1913 geht hervor, daß sich in der Nachbarschaft der vielen Villen mit ihren großen Gärten das Elend einquartiert hatte. Von dem Gelände des heutigen Grundstückes Nr. 55c, einem nüchternen Plattenbau, wird berichtet, daß im Quergebäude die Wohnräume 1,60 m unter dem Hofniveau lagen, daß nur in nächster Nähe des Fensters genügend Licht vorhanden war und der Besitzer unter Muskelrheumatismus litt. An diesen schlechten Wohnverhältnissen hat auch der Erste Weltkrieg nichts geändert. Im Gegenteil. Noch 1932 streikten die Bewohner des Grundstückes Nr. 34-35 gegen Mietwucher und verwahrloste Behausungen: »Meterlange, auf den Bürgersteig gemalte Pfeile weisen in eine kleine Gasse eines Fabrikzuganges, von dem man gleichzeitig in die bestreikten Hauser gelangt. Den schmalen Hof umschließen eine Fabrikmauer und zwei Wohnhäuser, auf denen in großen Buchstaben die Kampfparole Erst das Essen, dann die Miete geschrieben steht. Aus den Fenstern hängen 30 rote Fahnen. Vor einem Treppenaufgang steht: Hier wird gestreikt, wir wollen leben. Von 30 Kindern im Hause sind 12 tuberkulös.« Von solchen existentiellen Problemen sind in der Köpenicker Straße nicht alle bedroht. Max Kruse, Bildhauer und Vizepräsident der Berliner Sezession, weiß in seinen Lebenserinnerungen von weitaus Erfreulicherem aus dem Hause Nr. 126 zu berichten: »Im Frühling sahen wir aus unserem Hinterfenster auf große, blühende Tulpen- und Hyazinthenfelder.« Über diesen erfreulichen Anblick hinaus sieht er sich in einem Brief seiner Frau aus dem fernen Tessin aufgefordert, für das Weihnachtsfest 1905 aus Berlin ein paar Puppen für die Töchter zu besorgen. In einem Antwortschreiben (»Nee, ick koof keene Puppen, ick find’ se scheußlich«) rät er der Gemahlin, die Puppen selbst herzustellen. Es ist die Geburtsstunde der Käthe-Kruse-Puppen. Sie erlangten Weltberühmtheit und die brave Gattin 1956 das Bundesverdienstkreuz. Aber es gibt auch andere Verdienste, wenngleich nicht öffentlich belobigt. Im Hause des Cafetiers Mundt, Köpenicker Nr. 100, ruft eine Kommission 1889 die Arbeiter dazu auf, in Zukunft nur noch in Lokalen zu zechen, die ihre Säle auch für Arbeiterversammlungen zur Verfügung stellen: »Arbeiter, vermeidet die Abhaltung von Vergnügungen bei denjenigen Lokalbesitzern, die euch nicht gern sehen. Verzehret eure Groschen da, wo ihr zu allen Gelegenheiten Aufnahme findet.« Vergnügungen ganz anderer Art hat Dr. med. Magnus Hirschfeld im Blick. Wo sich heute im realsozialistischen Plattenbau Nr. 96-97 vermutlich aufgeklärtes Sexualleben abspielt, hielt er am 6. Oktober 1910 in einem »neue Philharmonie« genannten Haus einen Vortrag zum Thema »Das geschlechtliche Elend unserer Zeit«. Der Pionier der Sexualaufklärung läßt sich dabei ebenso über die »Folgen der Unkenntnis in geschlechtlichen Fragen« wie über »Ursachen und Wesen der männlichen und weiblichen Unfruchtbarkeit« aus. Für 50 oder ermäßigt 20 Pfennig war man dabei, Kinder selbstverständlich ausgeschlossen. Daß Aufklärung in jederlei Hinsicht nötig ist, mag unbestritten sein. Es verwundert aber doch, in welchen Wissensgebieten gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts so mancher einen Doktortitel erlangt. So etwa ein gewisser Ernst Stresemann, der seine Dissertation über die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäftes schreibt. Er wohnte im ehemaligen Haus Nr. 66 und ist für die deutsche Geschichte nicht als Doktor des Flaschenbiergeschäftes bedeutsam, sondern vielmehr durch den weniger akademischen Akt der Zeugung von Gustav Stresemann. Ein Abkömmling der Köpenicker Straße wird 1923 Reichskanzler und erhält 1926 den Friedensnobelpreis. Der Zweite Weltkrieg und die Teilung Deutschlands führen dann zur Teilung der Köpenicker Straße, die erst mit dem Fall der Berliner Mauer wieder aufgehoben wird. Vielleicht muß man Kabarettist sein, um die Bocksprünge der Geschichte ins richtige Licht zu tauchen. Schon am 1. Januar 1901 versuchte es einer. Er heißt Ernst von Wolzogen und eröffnet im Haus Nr. 68 das erste literarische Kabarett, »das Überbrettl«. Nach einem Jahr ist er bankrott. Dem verwöhnten Publikum vom Alexanderplatz war der Weg in die Köpenicker zu weit. Es ist anzunehmen, daß auch heute ein politisches Kabarett in der Köpenicker Straße keine Chance hätte. Schon damals drängelte alles in die Mitte. Literatur: Klaus Gerhardt, »Die schönste Straße auf der Luisenstadt ist unbestreitbar die Cöpenicker« (wenige Exemplare noch im Kreuzberg Museum) <br> |